Die „dunklen Seiten des Urheberrechts“ – ein Buch als Streitschrift über UbuWeb und Schattenarchive

Screenshot von ubuweb.com
„Duchamp is my Lawyer“ heißt das neue Buch des US-amerikanischen Schriftstellers und Künstlers Kenneth Goldsmith. Es ist eine – bisher nur im amerikansichen Original vorliegende – Streitschrift über sein digitales Archiv namens „UbuWeb“. Das nunmehr elf Bücher zählende Oeuvre von Goldsmith umfasst mehrere Romane und eine Sammlung von Interviews mit Andy Warhol.
In „Uncreative Writing“ von 2017 erklärte Goldsmith, wie das Kopieren und Wiedereinfügen von fremden Werken in neue Kontexte einen eigenen kreativen Akt darstellen kann. Das Buch stieß auf ein geteiltes Echo, viele Kritiker*innen warfen ihm vor, er verharmlose Urheberrechtsverstöße und Plagiatsdelikte.
Goldsmith ist nicht nur selber Künstler, er versteht sich auch als digitaler Archivar: Auf UbuWeb sammelt, kuratiert und bewahrt er zehntausende Kunstwerke aus Literatur-, Musik- und Filmgeschichte. Er bietet diese Werke kostenlos, öffentlich und teils vollkommen frei zum Download an, nimmt bewusst Abmahnungen und Klagen wegen Urheberrechtsverstößen in Kauf.
Man könnte auch sagen: Goldsmith treibt mit UbuWeb das Copy and Paste-Prinzip auf die Spitze, denn er betreibt ein urheberrechtlich fragwürdiges bis illegales Portal für verschiedenste Werkarten. Nicht versehentlich, sondern willentlich und bewusst.
Das wirft Fragen auf: Wie schafft es Goldsmith, trotz zunehmender urheberrechtlicher Regulierung und Überwachung, seine Website seit 1996 zu betreiben? Welche Erfahrungen hat er damit gemacht? Und: Warum tut er sich das an?
Anwaltlich vertreten von Marcel Duchamp

Buchcover „Duchamp is my Lawyer“, von Kenneth Goldsmith, Columbia University Press.
Im Titel bereits beruft sich Goldsmith auf „seinen Anwalt“ („My Lawyer“). Doch der genannte Marcel Duchamp ist kein Jurist sondern selber Künstler und gilt als Wegbereiter der „Readymades“, die Alltagsgegenstände gezielt dekontextualisieren, sprich: ihrem ursprünglichen Zusammenhang entreißen. Indem man sie ausstellt, können sie zu künstlerischen, ästhetischen Objekten werden.
Berühmt sind etwa Duchamps Flaschentrockner und vor allem ein Urinal, das er „Fountain“ taufte und 1917 in einer Ausstellung unterbrachte – was folgte, war ein Skandal, der die New Yorker Kunstwelt lange beschäftigte und den Grundstein für die Konzeptkunst legte.
Ähnlich wie Duchamp Anfang des 20. Jahrhunderts die Kunstwelt provozierte und ihre Regeln in Zweifel zog, sucht auch Goldsmith den Konflikt, geht über die Grenzen des Erlaubten hinaus. Allerdings mit dem Unterschied, dass Goldsmith gezielt urheberrechtliche Regeln in Frage stellt, indem er massenhaft geschützte Werke auf UbuWeb online stellt.
Alltägliche Kunst jenseits urheberrechtlicher Regeln
Goldsmiths Verständnis von Kunst, das wird über die etwa 300 Seiten des Buchs deutlich, ist von seinem Alltag im Internet geprägt, vom Browsen und Sich-Treiben-Lassen auf Websites, Repositorien, Schattenbibliotheken, halbseidenen Filesharing-Netzwerken und FTP-Servern.
Für ihn sind künstlerische Objekte genauso Alltagsgegenstände wie ein Fahrrad oder ein Blumentopf, insofern sie ästhetische Erlebnisse oder Erkenntnis stiften. Urheberrechtliche Fragen sind ihm vertraut, aber nicht maßgeblich: Goldsmith selbst zieht keine klare Linie zwischen urheberrechtlich legal und illegal.
Zwar hat für ihn die Kunst, seien es Gedichte, Videos oder konzeptuelle Ansätze, große Bedeutung. Aber Goldsmith versteht Kunst nicht als etwas Sakrales, das man nicht anfassen oder verändern darf. Er hat keine Scheu vor großen Namen und bekannten Urheber*innen, begegnet ihnen nicht mit Ehrfurcht, sondern will ihre Kunstwerke sammeln, verlinken, zueinander in Beziehung setzen und dadurch sichtbar erhalten.
Ein Guerilla-Archiv im Internet
Der streitbare Künstler geht seit Jahren forsch und sammelwütig vor. Anfangs noch eine Nischen-Website, um avantgardistische Gedichte und andere kleine Formen zu horten und zu bewahren, hat sich sein UbuWeb über die Jahre zu einer Anlaufstelle für jegliche Art von digital speicherbarer Kunst entwickelt.
Die zahlreichen Anekdoten zu Abmahnungen lassen erahnen, wieviel Zeit und Nerven ihn das Projekt kostet. Wieviel Aufwand es ist, ein Guerilla-Archiv aufzubauen und am Leben zu erhalten. Und er beschreibt damit zugleich, wie das Internet sowohl technisch entwickelt als auch urheberrechtlich reguliert wurde – und wird.
Er erzählt von einer zunehmenden Marktkonzentration großer Content-Anbieter im Netz, die Rechte katalogweise aufkaufen; von illegalen Filesharing-Plattformen, die im Laufe der Zeit verschwanden, deren Idee kommerzielle Firmen später in legale Geschäftsmodelle überführten.
Aufwändig im Betrieb, wendig in der Handhabe
Sehr liebevoll beschreibt der Autor, wie er neue Einträge anlegt, verlinkt und mit kurzen Texten ausstattet. Daran erkennt man: Es scheint vor allem ein kuratorisches Interesse, das UbuWeb fortbestehen lässt, kein kommerzielles.
Heute hostet und katalogisiert UbuWeb seltene avantgardistische 16-Millimeter-Filme genauso wie ganze Bücher, Romane, Zeitschriften und MP3-Sammlungen, experimentelle Radiosendungen, verschollene Sound-Collagen, Mitschnitte von Theater- und Tanzaufführungen, Interviews, Berichte und vieles mehr.
Im Grunde funktioniert die Seite noch wie in den 1990ern. Schon damals lautete Goldsmiths Mantra: „Keep it simple“. Deutlich plädiert er für die Vorteile einer schlanken und flexiblen Webseitenstruktur. Das oftmalige Umziehen seiner Site und die vielen Softwareupdates seit den 1990er Jahren haben ihn gelehrt, alles so einfach wie möglich aufzubauen.
Der Code von UbuWeb ist in einfachem HTML gehalten, die Seite soll auf jedem Betriebssystem, selbst in älteren Browsern darstellbar und notfalls von Offline-Quellen wiederherstellbar sein. Diese, an sich veraltete Simplifizierung hat ihren Preis: Alles muss von Hand eingepflegt und verwaltet werden.
Die Dateien hostet UbuWeb bevorzugt auf eigenen Servern, die Seite verzichtet nicht vollständig, aber dort, wo es möglich ist, auf Einbettungen von Diensten wie Youtube oder Google Drive.
Aufstieg und Fall von cloudbasierten Systemen und One-Click-Hostern, wie etwa Rapidshare oder Megaupload, hätten ihn dazu veranlasst, so viel Kontrolle wie möglich über die bei UbuWeb gehosteten Inhalte zu behalten, so Goldsmith.
„Robin Hood der Avantgarde“
Dass so ein großes Projekt nicht als Einzelperson realisierbar ist, liegt auf der Hand. Goldsmith hat einige Ehrenamtliche um sich geschart, die beim Betrieb der Website mitarbeiten. Zudem hat UbuWeb einen Ruf in der Szene und darüber hinaus, viel Material senden Externe ein. So umfasst UbuWeb mittlerweile mehrere zehntausend Einträge, teils eigens für dieses Archiv digitalisiert und veröffentlicht.
Irgendwann erhielt UbuWeb den Beinamen „Robin Hood der Avantgarde“ – wobei Goldsmith und sein Team nicht gegen das Urheberrecht „kämpfen“. Ihr gemeinsamer Feind, so Goldsmith, sei das kollektive Vergessen. Sie wollen die vielen unterschiedlichen Formen künstlerischen Ausdrucks bewahren, für Interessierte und Forscher*innen bereithalten, insbesondere wenn die Werke anderweitig nicht auffindbar wären oder sich beispielsweise kleine Bibliotheken die erforderlichen Lizenzen nicht leisten könnten.
Goldsmith betont die Nische, die UbuWeb füllen will: sie soll eine Infrastruktur für nicht mehr erhältliche und obskure künstlerische Werke und Materialien sein, die fernab der Bibliotheken, Museen und Archive der Großstädte für alle Menschen mit Internetanschluss zugänglich ist.
Bloß nicht um Erlaubnis fragen – aber mit Augenmaß und Argumenten reagieren
Um Erlaubnis fragt Goldsmith die Urheber*innen oder Rechteinhaber*innen aus Prinzip nicht. Das sei zu aufwändig, allein die Suche laufe oftmals ins Leere. Und wenn eine Anfrage die Urheber*innen erreiche, kämen in den meisten Fällen sowieso nur Absagen – oder später Abmahnungen. Daher könne man es auch gleich sein lassen, so Goldsmith, insbesondere bei der schieren Menge, die Tag für Tag auf UbuWeb hinzukommt.
Ähnlich wie etwa das Internet Archive, das derzeit von einer Reihe großer Buchverlage verklagt wird, erhält auch UbuWeb regelmäßig Anwaltspost. Goldsmith verteidigt seine Website mit Argumenten: Bei Unterlassungsforderungen von vorgeblichen Urheberrechtsverstößen erklärt er die Situation. Viele Anwält*innen und Urheber*innen konnte er so bereits überzeugen. Bleibt die Unterlassungsaufforderung bestehen oder kommt es zu einer Klage, zeigt Goldsmith sich konziliant und nimmt die angemahnten Werke von seiner Seite.
Gleichwohl berichten in „Duchamp is my Lawyer“ viele Künstler*innen, dass sie sich darüber freuen und es als Ehre empfinden, wenn das UbuWeb ihre Werke in seine Sammlung aufnimmt.
Im Schatten des Urheberrechts
Für das illegale Hosten und Verfügbarmachen von wissenschaftlicher und belletristischer Literatur hat sich der Begriff „Schattenbibliothek“ eingebürgert. Goldsmith widmet diesen legalen und illegalen Plattformen ein eigenes Kapitel, erklärt deren jeweilige Motivation und Nutzen.
Sein UbuWeb funktioniert ähnlich wie eine Schattenbibliothek, geht aber noch einen Schritt weiter. Denn die Webseite beschränkt sich nicht auf Bücher und verfolgt einen mehr oder weniger erkennbaren kuratorischen Ansatz.
Demnach ist UbuWeb eher eine Schattenmediathek, ein Schattenarchiv mit thematischem Schwerpunkt. Der metaphorisch gemeinte „Schatten“ zielt hier vor allem auf die dunkle Seite des Urheberrechts: wenn Kunst aufgrund urheberrechtlicher Probleme – oder der bloßen Sorge davor – verborgen oder unsichtbar bleibt.
UbuWeb selbst ist sichtbar, auffindbar, stabil erreichbar. „Duchamp is my Layer“ wird daran nichts ändern, im Gegenteil: Goldsmith stellt sich mit seiner Streitschrift selbst ins Licht, leuchtet seine Website und die dahinter stehende Arbeit und Motivation aus. Das könnte Leser*innen dazu ermutigen, selbst offensiver mit urheberrechtlichen Fragen umzugehen.
Fazit
Goldsmiths Buch wirkt nicht defensiv, sondern – das liegt vermutlich an den Abmahnerfahrungen – abgeklärt und ausgeruht. Anhand zahlreicher Beispiele und in einem leicht verständlichen Amerikanisch zeigt er die Schwachstellen urheberrechtlicher Regulation auf. Das Buch steckt voller Ratschläge und politischer Forderungen, sein Tonfall aber ist moderat.
Mit dem Bezug auf Marcel Duchamp als moralischem Anwalt ordnet sich der Autor einer etablierten künstlerischen Tradition zu, knüpft an eine ästhetische Linie an, in der das Dekontextualisieren von Alltagsgegenständen zentral und anerkannte Kunst ist – eine Kunst, die aber auch aneckt und Probleme macht.
Bewusst setzt sich Goldsmith über Urheberrechte hinweg, aber nicht um sich daran zu bereichern (allenfalls geistig), sondern um ihre Funktionen und Effekte im Digitalen auf die Probe zu stellen und ihre Probleme sichtbar zu machen.
Und so ist es nur konsequent, dass er sein eigenes Buch in den legalen und nicht so legalen Plattformen verfügbar halten will, selbst wenn er selbst oder sein Verlag nicht mehr existieren sollten: Sobald das Buch keinen kommerziellen Nutzen für den Verlag und ihn selbst mehr habe, werde er es in den einschlägigen Portalen hochladen und damit allen zur Verfügung stellen.
Kenneth Goldsmith, „Duchamp is my Lawyer“, 328 S., Columbia University Press, 24,- EUR (Taschenbuch/eBook).
Hinweis in eigener Sache:
Die Lage der Gedächtnisinstitutionen im Zusammenhang mit dem Urheberrecht – während der Corona-Krise und generell – wird auch bei der diesjährigen Konferenz „Zugang gestalten“ diskutiert: etwa in den Vorträgen „Das Internet Archive und die Situation deutscher Bibliotheken“ von Prof. Dr. Linda Kuschel oder „Museen und das Urheberrecht“ von Prof. Dr. Anne Lauber-Rönsberg.
Die Konferenz steht dieses Jahr unter dem Titel „Innovationsschub“ findet am 29. und 30. Oktober 2020 als reine Online-Veranstaltung statt. Weitere Informationen und Anmeldemöglichkeit unter zugang-gestalten.org.
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