Die offene Bibliothek: Vom „Bücherschrank“ zum Ort des Gemeinwesens?
In der deutschsprachigen Wikipedia ist die Funktion einer Bibliothek so definiert: „Bibliotheken sammeln, erschließen, bewahren und machen Informationen verfügbar.“ Damit ist gut beschrieben, was Bibliotheken im Kern leisten, nämlich den Zugang zu Bildung ermöglichen. Meistens ist damit Literatur gemeint, also Bücher und andere Schriftwerke, gedruckt wie digital.
Das legt bereits die Wortwurzel der Bibliothek nahe: Das griechische biblon heißt Buch oder Schrift, auch die Bibel leitet sich davon ab. Die theke bezeichnete im Griechischen ursprünglich einen Behälter, etwa eine Kiste oder einen Schrank. Wörtlich übersetzt wäre eine Bibliothek also ein Bücherschrank.
Bibliotheken legen die Zugänge zu Bildung, Wissen, Informationen
Schulkinder, Studierende, Forscher*innen, literarisch und künstlerisch Interessierte – sie alle suchen Bibliotheken auf, um sich zu informieren, zu schmökern, zu forschen oder historische Dokumente zu sichten. Viele Bibliotheken bieten Tageszeitungen, elektronische Zugänge zu digitalen Medien oder eigene Abteilungen für Musik und Filme. Der Gedanke dahinter: Informationen und Medien zentral vorhalten, damit alle sie nutzen können, ohne sie erwerben zu müssen.
Aber geht da nicht noch mehr, als sich nur auf die Bereitstellung von Informationen und Medien zu konzentrieren? Könnte die Bibliothek nicht auch ein Ort des Gemeinwesens, der zukunftsfähigen Bildung und der sozialen Integration sein? Wo Leute zusammenkommen, sich austauschen und ausprobieren können – auch jenseits des Buchs?
Kochen, Musizieren, Nähmaschinen, 3D-Druck – und das in einer Bibliothek!
In Helsinki hat man eine solche Vision verwirklicht: 2019 eröffnete in der finnischen Hauptstadt die Oodi-Bibliothek in einem architektonisch reizvollen Gebäude und von Anfang konzipiert als ein Ort des Gemeinwesens. In Sichtweite von Parlament und Hauptbahnhof gelegen zieht die Zentralbibliothek Helsinkis nicht nur Literaturbegeisterte an, sondern ist ein wichtiger Treffpunkt, um sich kreativ auszuprobieren – oder auch einfach nur die Steuererklärung zu machen.
Neben verschiedenen Arbeitsplätzen und Leselandschaften gibt es in der Oodi eigene Abteile, um Computerspiele zu zocken, ein DJ-Setup, Proberäume mit Schlagzeug, Gitarren und anderen Instrumenten sowie ein daran angeschlossenes Musikstudio.
Angehende Rockstars (und -sternchen) können in der Bibliothek nicht nur proben, sondern ihre Stücke aufnehmen und mischen (lassen) – und im Fotostudio nebenan gleich die passenden Pressefotos schießen. Die Geräte und Räume können die finnischen Bürger*innen einfach buchen.
Das ist aber nicht alles. Weiter steht in der Oodi zur Verfügung: Eine offene Werkstatt („Makerspace“ oder „FabLab“ genannt) mit MDF-Laser (etwa zum Verarbeiten von Holz), Nähmaschinen und mehreren 3D-Druckern. Es gibt auch einen Theatersaal, einen Kinosaal, leistungsstarke Filmschnitt-Computer mit entsprechenden Monitoren und eine Küche zum Selberkochen. Wer lieber in die Kantine gehen will, findet dort günstiges und gesundes Essen.
Kreativität kann auch handwerklich sein
Die Oodi ist ein Platz, um sich entspannt aufzuhalten. Sie wird gezielt als öffentlicher Ort des Gemeinwesens beworben, die Besucher*innen müssen nichts kaufen. Sie tritt damit in Konkurrenz zu den halböffentlichen Shopping-Centern, in denen letzten Endes doch nur erwünscht ist, wer einkauft.
Mit den verschiedenen Angeboten zieht sie Publikum aller Altersklassen an. Die Planer*innen der Oodi haben verstanden, dass Bildung nicht nur Lesen meint, kreativer Ausdruck intellektuell wie handwerklich sein kann.
Gerade für junge Leute, die einen haptischen oder künstlerischen Zugang zur Welt (und auch zu sich selbst) suchen, ist das attraktiv. Sie können – alleine oder unter Anleitung des Bibliothekspersonals – an den Maschinen Erfahrungen sammeln, sich in der offenen Werkstatt mit Gleichgesinnten austauschen, fachsimpeln, tüfteln – und ein Stockwerk höher in der Fachliteratur nachlesen, wie was geht. Die Bibliothek wird damit zu einem creative hub und zur offenen Werkstatt.
Was sich von der Oodi lernen lässt
In deutschen Bibliotheken sucht man solche Angebote bisher vergeblich. Viele, wenn auch nicht alle Bibliotheken in Deutschland sind gebaut, als wollten sie einschüchtern. Besucher*innen staunen über die Fülle an Büchern, merken, dass sie in ihrer Lebenszeit nur einen Bruchteil davon lesen können.
Eigenes Essen in die Bibliothek mitzubringen ist in der Regel verboten, Wasser geht nur in durchsichtigen Flaschen aus Plastik (kein Glas!). Wer mit einem Kuli oder Füller im Lesesaal erwischt wird, bekommt Ärger.
Zweifellos haben die Disziplinierungsmaßnahmen ihre guten Gründe (auch wenn manche Besucher*innen sie als Gängelung empfinden). In vielen deutschen Bibliotheken liegen Kulturgüter von unschätzbarem Wert und auch gewöhnliche Bücher sollten nicht mit Cola verklebt werden.
Die offene Bibliothek als Vision
Aber die Ehrfurcht vor der Vergangenheit sollte die Neugier auf die Zukunft nicht erdrücken. Lernen heißt, sich auszuprobieren und Fehler zu machen. Kreativ sein heißt, Dinge miteinander zu verbinden, die zuvor unverbunden waren – im Geiste wie mit den Händen. Die offene Bibliothek kann dem Buch den verdienten Status zusprechen (ohne es zu fetischisieren) und gleichzeitig die eigene Funktion als Kreativort und Werkstatt weiterentwickeln.
Die offene Bibliothek erweitert die hervorragende Idee, einen zentralen und kostengünstigen Zugang zu Medien und Informationen bereitzustellen. 3D-Drucker und Musikstudios sind teuer, wenn sie individuell angeschafft werden müssen, aber als geteilte Ressourcen werden sie schnell erschwinglich.
Die offene Bibliothek ist integrativ und zugänglich im besten Sinne – für alle, die mögen und die einen Ort des Austausches suchen. Die offene Bibliothek ist eine kluge Investition in die Zukunft, wenn sie die Einschüchterungsgesten ablegt und sich selbst als Ort des Gemeinwesens versteht. Das heißt, alle potentiellen Besucher*innen mitzudenken und den gemeinsamen Ort so inklusiv wie möglich zu gestalten.
Denn auch das kann man von der Oodi lernen: Seine Kinder mitzubringen ist kein Problem. In der oberen Etage gibt es eine große Spielecke für die Kleinen und Großen. Diese ist nicht in einen separaten Raum gezwängt, sondern direkt im Lesesaal untergebracht.
Damit wird den Eltern signalisiert: Ihr seid willkommen, mit und ohne Kindern. Der Lesesaal ist trotzdem erstaunlich ruhig. Und wer sich doch mal zurückziehen will, findet auch dazu einige Angebote. Bücher lesen kann man nämlich auch in der Oodi.
In Hamburg soll das „Haus der Digitalen Welt“ entstehen – Pläne bisher unkonkret
Tatsächlich scheint die Oodi-Idee auch in Deutschland zu verfangen. Vor einigen Tagen verkündete die Stadt Hamburg, ein sogenanntes „Haus der Digitalen Welt“ entwickeln zu wollen. Die dazugehörige Pressemitteilung liest sich vielversprechend:
Der Stadt Hamburg wird ein in Deutschland einmaliger Innovations- und Bildungsraum gegeben, der mit neuartiger Öffentlicher Bibliothek, einer breiten Palette von Seminarräumen, Foren, Digital Labs, Coworking Spaces, Makerspaces, Studios und weiteren flexibel nutzbaren Flächen die Gestaltung der Digitalisierung und andere zentrale Gesellschaftsfragen befördert.
Die Nähe zur finnischen Oodi in diesen Zeilen ist unübersehbar, über die konkreten Pläne des Prestige-Projekts erfahren Leser*innen allerdings kaum etwas. Erstmals vorgestellt wurde das „Haus der Digitalen Welt“ vor knapp zwei Jahren im Koalitionsvertrag der Hamburger SPD und Grünen.
Wie genau sich das Analoge und das Digitale „nahtlos ineinanderfügen“ sollen, wie es in der neuen Mitteilung heißt, damit „eine der modernsten Bibliotheken Europas geschaffen“ werde, muss sich zeigen. Auch über den möglichen Ort gibt es noch keine Informationen. Aber die Hamburger Initiative macht Hoffnung, dass die offene Bibliothek auch hierzulande Freund*innen findet, die sich dort zum Lesen und Lasern treffen können.
iRights.info informiert und erklärt rund um das Thema „Urheberrecht und Kreativität in der digitalen Welt“.
Wir sind auch in den Sozialen Medien zu finden: Folgen Sie uns auf Twitter, Facebook, Telegram oder LinkedIn!
Sie möchten uns unterstützen? Das geht ganz einfach über die Spendenplattform Betterplace!
2 Kommentare
1 Fred am 17. Juni, 2022 um 14:53
Oodi ist sicherlich eine großartige Bibliothek – dort wird sehr viel umgesetzt, was ich mir für die ideale Bibliothek erträume und ich freue mich schon darauf, Oodi mit eigenen Augen zu sehen.
Allerdings – bitte, bitte, bitte – bevor danach die deutschen Biblioteken gescholten werden: schauen Sie sich welche an. Gerade Stadtbibliotheken sind keine verstaubten Horte der Hochkultur, sondern lebendige Orte des Austauschs für alle Alters- und Bevölkerungsgruppen von Güstrow bis Stuttgart und von Köln bis Dresden. (Warum das in einer Staats- oder Universitätsbibliothek nicht der Fall ist, sollte klar sein, aber auch da tut sich vieles – einen Makerspace hat z.B. auch die SLUB in Dresden.)
2 Georg Fischer am 20. Juni, 2022 um 16:19
Danke für Ihren Kommentar. Sie haben recht: die Stadtbibliotheken in Deutschland leisten großartige Arbeit. Mir ging es vor allem darum, die Vision von einer Bibliothek als Ort des Gemeinwesens zu zeichnen. Das scheint mir in Deutschland doch stark zu fehlen, gerade bei den großen, traditionsbewussten Prestige-Projekten.
Was sagen Sie dazu?