Die Enteignung der Wirklichkeit
Mein einschneidendes Erlebnis in Bezug auf Urheberrechte hatte ich als Vertreter der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm (AG DOK), als ich bei einem großen deutschen Fernsehsender eingeladen war, um für freie Dokumentarfilmer bessere Produktionsbedingungen und für die Urheber Wiederholungshonorare einzufordern. Die Kollegen, die über den Tarifvertrag beschäftigt waren, arbeiteten schon lange unter besseren Konditionen, aber den freien Kollegen, die für externe Produzenten arbeiteten, wurden diese genauso lange vorenthalten.
Die Überraschung kam, als die anwesenden Vertreter der Sender doch glatt die Urheberschaft eines Regisseurs beim Dokumentarfilm anzweifelten, ja sogar der Werkcharakter eines Dokumentarfilms an sich wurde geleugnet. Das sei doch nur „abgefilmte Wirklichkeit“, hieß es, und der Regisseur habe doch gar keinen Einfluss darauf, was da geschieht, also nein, das sei nun wirklich kein WERK. Und was kein WERK sei, dafür könnte doch nun wahrlich niemand auch noch ein Wiederholungshonorar erwarten, zusätzlich zu dem doch ohnehin schon fürstlichen Grundhonorar. Da ich meine Filme mit großem Einsatz und Aufwand herzustellen pflege, blieb mir erst mal die Spucke weg. Mein damals aktueller Film sah gerade seiner dreißigsten Ausstrahlung auf einem der digitalen Kanäle entgegen.
Nur mit der geballten angereisten Kraft unserer Verhandlungskommission, zu der auch ein Professor für Urheberrecht gehörte, gelang es uns, den Dokumentarfilm und auch die Dokumentation, die Reportage und das Feature wieder in den Rang eines urheberrechtlich schützbaren Werkes zu diskutieren. Am Ende hatten wir sogar die Zusicherung, dass zumindest für die Filme, für die der Sender einen Großteil der Kosten übernimmt (und damit auch in der Regel alle Verwertungsrechte bekommt), ein bescheidendes Wiederholungshonorar gezahlt werden sollte.
Wirklichkeit im Dokumentarfilm
Es ist schon vermaledeit mit der Wirklichkeit – und der Dokumentarfilmer ist ja verpflichtet diese, zumindest „irgendwie“, abzubilden. Natürlich schöpft der Filmer durch seine Sicht auf die Dinge etwas Eigenes aus dem Vorhandenen – alleine schon seine Anwesenheit und Sichtweise verändert ja den Lauf der Dinge. Nun mag die einzelne Filmaufnahme nicht in jedem Fall das Kriterium der für den Schutz notwendigen Schöpfungshöhe erreichen, das das vorhandene Laufbild ja erst zum Werk macht. Spätestens aber bei der Montage entsteht zwangsläufig durch Auswahl, Gewichtung, Ton, Schnitt und eventuell auch Hinzufügen von Musik etwas, das eine eigenständige künstlerische Leistung enthält und damit auch den für das Urheberrecht verlangten Werkcharakter hat.
Doch was passiert eigentlich, wenn der Dokumentarfilmer etwas aufnimmt, was ein anderer Urheber bereits vor ihm geschaffen hat? Hat er dann das Recht, das Werk des anderen einfach so – frei zu benutzen – oder muss er dem anderen, genauso wie wir es für die Dokumentarfilmer bei der Sendeanstalt verlangt haben, eine Art Wiederholungshonorar oder doch zumindest eine Entschädigung für die Nutzung seines Werkes zahlen? Gegenwärtig ist Letzteres der Fall und das nimmt bisweilen sehr merkwürdige, extreme und, wie ich meine, auch unakzeptable Züge an.
Die Enteignung der Wirklichkeit
Urheber eines bereits bestehenden Werkes haben nicht nur ein Recht auf Vergütung, sondern in vielen Fällen auch ein Verbotsrecht. Damit bin ich bei meinem eigentlichen Thema: Der Enteignung der Wirklichkeit.
Nehmen wir ein Beispiel: Sie machen eine Dokumentation über einen Politiker. Sie haben keinen Sender und hoffen jedoch, diese ins Kino zu bringen, auf DVD auszuwerten und den Film anschließend an einen Sender verkaufen zu können. Denn vielleicht wird der Portraitierte ja der nächste Kanzlerkandidat seiner Partei. Er hat zuvor sein Einverständnis erklärt. Als Person des öffentlichen Interesses wäre er zwar nicht von vornherein vor einer Berichterstattung gegen seinen Willen geschützt, aber es ist natürlich schöner, wenn er kooperiert.
Von dort droht erstmal keine Behinderung des dokumentarischen Auftrages. Nun filmen Sie ihn aber auf einer Parteiveranstaltung, auf der beispielsweise der Stones-Song „Angie“ gespielt wird. Ihr Protagonist erhebt sich begeistert, singt mit und schunkelt mit seiner Parteivorsitzenden. Eine großartige Einstellung, die ihn hervorragend charakterisiert und auf die Sie in Ihrem Film auf gar keinen Fall verzichten wollen. Nur Sie werden es wohl müssen, es sei denn, Sie haben einen Etat zum Erwerb von Musikrechten. Eine durchschnittliche Dokumentarfilmproduktion hat einen solchen aber nahezu nie.
Gehen wir nun davon aus, dass der Veranstalter des Parteitages die Stones um Erlaubnis für das Abspielen des Songs gefragt und diese auch (vermutlich) kostenpflichtig bekommen hat. Das bedeutet aber nach vorherrschender Rechtsmeinung immer noch nicht, dass Sie das Stück auch in Ihrem Film verwenden dürfen, ohne noch mal eine kostenpflichtige Erlaubnis für das Filmverwertungsrecht bei den Inhabern der Urheber und Leistungsschutzrechte einzuholen.
Nutzungsrechte für jede Einstellung
Und dabei haben Sie nichts anderes gemacht, als das aufzunehmen, was in Wirklichkeit passiert ist – und das, ohne selber darauf Einfluss zu nehmen, ja überhaupt Einfluss nehmen zu können. Die Stones beziehungsweise ihre Rechteverwerter können Ihnen das Einverständnis verweigern oder den Preis so hoch ansetzen, dass Sie sich die Rechte auf gar keinen Fall leisten können. Sie brauchen Ihnen auf Ihre Anfrage nicht einmal zu antworten.
Zeigen Sie die Szene trotzdem in Ihrem Film, flattert oftmals noch vor der ersten öffentlichen Vorführung eine strafbewährte Unterlassungserklärung wegen Verstoß gegen das Urheberrecht ins Haus. In dieser werden Sie aufgefordert, „das Werk unserer Mandanten aus Ihrem Film unverzüglich zu entfernen“. Wenn Sie also die Auswertungschancen Ihres Filmes nicht gefährden wollen, müssen Sie auf diese Einstellung verzichten, obwohl gerade diese Ihnen aus künstlerischen Gesichtspunkten soviel bedeutet hatte.
Es könnte aber auch ein Interview sein. Während der Aufnahme stellen Sie den Politiker vor das Bildnis seines großen Vorbildes im Innenhof des Kanzleramtes. Der Interviewte lässt sich einfallen, mit dieser Skulptur, die ein berühmter Künstler hergestellt hat, in den Dialog zu treten. Dabei flüstert er ihm zum Beispiel Dinge ins Ohr, die Sie in ihrem Film gerne verwenden würden, um ihn zu charakterisieren.
Sie ahnen was kommt? Der Künstler des Kunstwerkes muss um Erlaubnis gefragt werden. Er kann diese verwehren oder sich teuer bezahlen lassen. Denn leider stand das Kunstwerk nicht im öffentlichen Raum, sondern im Innenhof des Kanzleramtes, Pech gehabt.
Die Wirklichkeit ist urheberrechtlich geschützt
In der Folge verzichten Sie lieber auf eine weitere großartige Einstellung und setzten sich mit dem Politiker ins Auto, um ihn bei einem Besuch in seinem Wahlkreis zu zeigen. Er will volksnah und sympathisch erscheinen und macht dafür während der Aufnahme das Radio an. Sie bitten ihn es wieder abzuschalten, denn langsam ahnen Sie, dass Sie da vorsichtig sein müssen.
Er kommt in eine Polizeikontrolle und Sie drehen, während ein Polizist sich ein Autogramm geben lässt. Der Polizist belehrt Sie, dass er bitte unkenntlich gemacht werden will und lässt Sie dann weiter filmen. Aber gerade als der Politiker das Autogramm unterschreibt und salbungsvolle Worte findet, klingelt das Handy des Politikers mit einem Klingelton des Strauss-Walzers. Dieser ist aber leider grundsätzlich noch vom Urheberrecht geschützt (70 Jahre nach den Tod vom Urheber). Zudem ist es auch noch eine Einspielung der Berliner Philharmoniker unter dem großen Herbert von Karajan. Den Klingelton hat der Politiker zwar legal im Internet von seinem Assistenten erwerben lassen, aber SIE nicht, also wieder eine Szene, die Sie nicht verwenden dürfen.
Zitatrecht für Film gibt es in der Praxis nicht
Andere Szenen, die nicht verwendet werden dürfen, sind Archivmaterialien wie beispielsweise Ausschnitte von Filmen oder Fotografien, bei denen die Rechteinhaber nicht geklärt werden können oder die Rechte zu teuer sind. Man kann diese Beispiele fast beliebig fortsetzen und wird feststellen, dass man eigentlich immer, wenn man die Kamera anschaltet, um die Wirklichkeit – wie man sie gerade erlebt – abzubilden, mit einem Beim im Knast steht.
Nun sollte man annehmen, dass es durch das Zitatrecht und das Recht der freien Bearbeitung möglich sein sollte, solche Nutzungen kostenfrei und ohne die Gefahr von Klagen vornehmen zu können. Dies ist in der Praxis aber leider nicht so.
Ein Dokumentarfilmer kann sich durch die schlichte Abbildung der Wirklichkeit schnell vor den Schranken des Gerichts wieder finden. Unsere moderne Wirklichkeit ist so durchdrungen von urheber-, leistungs- und markenschutzrechtlichen Werken, dass man ihnen nicht entkommen kann. Wenn man sich erstmalig mit dieser Thematik beschäftigt, kommt es einem absurd vor und man fragt sich, warum diese Situation nicht schon längst vom Gesetzgeber abgeschafft wurde.
Dokumentarfilme bei den Öffentlich-Rechtlichen
Der Leidensdruck der Dokumentaristen konnte bisher durch zwei Aspekte gering gehalten werden. Zum einen gibt es die großen und mächtigen öffentlich-rechtlichen Sender (mit einem Gebührenaufkommen von 7 Milliarden Euro pro Jahr), die bislang ein quasi-Monopol auf die filmische Dokumentation hatten. Sie haben es in den vergangenen Jahren verstanden, mit der GEMA und der VG Bild-Kunst (die Verwertungsgesellschaft der bildenden Künstler) bezüglich der Filmverwertungsrechte einen Deal auszuhandeln: Er erlaubte es ihnen und ihren Auftragsproduzenten, sich frei aus dem GEMA- (Musik) und Bild-Kunst- (Kunstwerke) Repertoire zu bedienen. Dafür wurde einmal jährlich pauschal bezahlt und im Nachhinein jede Verwendung gemeldet.
Schrankenbestimmungen im Urheberrecht unzureichend
Zum anderen sieht das Urheberrecht für die aktuelle Berichterstattung diverse Ausnahmen von den Einschränkungen des Urheberrechts vor. Diese Ausnahmen gelten allerdings nur eingeschränkt für die filmische Berichterstattung von freien Produzenten und Filmemachern, die sich anschicken, eine Berichterstattung und Dokumentation außerhalb des Korsetts des formatierten und parteipolitisch weich gespülten öffentlich-rechtlichen Rundfunks anzubieten. Solche Produktionen sind durch kostengünstige Produktionsmittel und die neuen Möglichkeiten des Internet, ein Publikum für bewegte Bilder zu erreichen, erstmals möglich geworden.
Massiv behindert werden sie aber durch das zur Zeit gültige Urheberrecht, dessen Schrankenbestimmungen – Ausnahmen für Bildung, Wissenschaft und Kunst – nur unzureichend auf die Anforderungen von freien Produzenten von Dokumentarfilmen eingeht. Wenn wir wirklich eine pluralistische Berichterstattung und damit einhergehende Meinungsvielfalt wünschen, dann besteht meiner Meinung nach gerade hier dringender Handlungsbedarf. Gegenwärtig wird das Urheberrecht mehr und mehr zum Instrument der Zensur.
Zitatrecht ausweiten und harmonisieren
Was muss getan werden? Das Zitatrecht muss auf europäischer, besser noch auf internationaler Ebene auf einem hohen Niveau liberaler gestaltet und harmonisiert werden. Vielfältige und möglichst breite Informationen über Ereignisse sind für eine kritische und demokratische Öffentlichkeit elementar. Zudem müssen auch die Produzenten in die Lage versetzt werden, die nicht geringen Investitionen auf dem größtmöglichen Markt einzuspielen, um ihren Aufwand und das vorgestreckte Geld besser refinanzieren zu können.
Wenn es von Pontius Pilatus heißt, er habe geäußert „Quod dixi, dixi“ – was ich gesagt habe, habe ich gesagt – dann muss das auch für die Äußerungen und Werke von Künstlern gelten. Was einmal in der Öffentlichkeit ist, kann nicht zurückgerufen werden. Es wird zum Teil der Wirklichkeit der Menschen und damit wiederum zum Objekt neuerlicher künstlerischer Betrachtung und Verwendung.
Das Verbotsrecht des ursprünglichen Urhebers darf nicht andere künstlerische Äußerungen oder die Berichterstattung von tatsächlichen Begebenheiten einschränken. Dieses Recht sollte ausdrücklich für Dokumentation gelten und hier auch nur für die, die nur das aufnimmt, was tatsächlich und ohne Manipulation der Filmemacher beim Dreh vorgefunden wurde
Ausdrücklich nicht gemeint ist jede Form von Inszenierung oder Montage, es sei denn, es handelt sich um klassische filmische Mittel wie beispielsweise Überlappungen des O-Tones von einer Szene in die nächste. Auch der künstlerische Film, der versucht sich der Realität durch Verfremdung oder Überhöhung zu nähern, sollte von einer angestrebten Liberalisierung des Zitatrechts profitieren, wenn und sofern er auf bereits bestehende Werke zurückgreift.
Vergütung von Künstlern
Das soll keinesfalls dazu führen, dass Künstler um die Vergütung für ihre Arbeit gebracht werden. Wenn Nutzungen stattfinden, ohne dass ein neues Werk entsteht oder lediglich Plagiate unter Zuhilfenahme des reformierten Zitatrechts geschaffen werden, so soll dies durchaus strafbar und verboten bleiben. Ich könnte mir auch eine Lösung vorstellen, bei der den Urhebern der bereits bestehenden Werke durchaus eine Vergütung zugestanden wird, dann aber ohne das Verbotsrecht und zu Bedingungen, die eine Veröffentlichung des neu entstandenen Werkes nicht verhindern.
Im Musikbereich gibt es bereits eine solche Regelung zur Wiederaufnahme von einmal veröffentlichten Musikwerken. Diese erlaubt es im Prinzip jedem Interpreten das Werk eines anderen zur Aufführung zu bringen, es aufzuzeichnen und als Aufzeichnung zu vertreiben. Der Künstler muss allerdings einen Teil der Einnahmen über die Verwertungsgesellschaft GEMA an den Urheber des entsprechenden Werkes abführen. Je stärker das neue Werk bearbeitet wurde, desto geringer ist der abzuführende Anteil, denn desto mehr hat der nachfolgende Künstler ja selbst ein neues Werk geschaffen. Eine ähnliche Regelung könnte ich mir auch im Bereich der audiovisuellen Medien vorstellen.
In den USA gibt es bereits eine Studie, die unter dem Titel „Best Practice in Fair Use“ erschienen ist, und Filmemachern als Wegweiser auf dem juristischen Minenfeld des Zitatrechts dienen soll. Dort wird zusammengefasst, was die US-amerikanischen Gerichte bereits als zulässig angesehen haben und was nicht.
Auch die Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm engagiert sich zusammen mit anderen europäischen Dokumentarfilmern in einer Initiative, in der es darum geht, das Zitatrecht auf hohem Niveau in Europa zu harmonisieren. Die oben genannte Studie ist dabei wichtiger Teil der Argumentation und eine gute Anregung. Doch wie bei jeder Gesetzesänderung steht nun das Bohren dicker Bretter an, das nicht unbedingt zu einem schnellen Erfolg sowie der notwendigen Rechtssicherheit führt. Aber immerhin, es ist ein Anfang.
C. Cay Wesnigk arbeitet seit 1987 seit Regisseur, Autor und Produzent von Dokumentar-, Kurz- und Spielfilmen. Er ist Mitgründer des Portals Online Film, ist im Vorstand der AG DOK und zur Zeit Verwaltungsratsvorsitzender der Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst.
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