Die Digitalcharta – und was wir stattdessen brauchen
Die Digitalcharta, ein noch sehr früher Entwurf eines „Grundrechtekatalogs digitaler Grundrechte“ von 27 Initiatoren, darunter vielen Personen des öffentlichen Lebens, wurde am 5. Dezember im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europaparlaments vorgestellt. Zahlreiche Juristen (Nachweise unter anderem bei Thomas Stadler) hatten sich zuvor in ausführlichen Beiträgen kritisch über die Charta als solche geäußert und dringend davon abgeraten, sie im Europaparlament vorzustellen. Die Positionen sind seither unverändert: Juristen – in erster Linie Anwälte – halten den Entwurf für irreparabel misslungen, sodass eine Diskussion hierüber obsolet ist. Die Initiatoren sehen das anders und ignorieren die Kritik weitgehend oder laden zum konstruktiven Mitdiskutieren ein.
Ich teile die bisherige Kritik uneingeschränkt. Die Charta hat keinen praktischen Wert und keinen Nutzen für die Rechte des Einzelnen in der digitalen Welt. Sie taugt nicht einmal als Arbeitsauftrag für staatliche Stellen. Das liegt in erster Linie daran, dass sie die Herausforderungen der digitalen Welt nur sehr pauschal benennt und sich nicht die Mühe macht, herauszuarbeiten, welche konkreten Schwierigkeiten die Digitalisierung des täglichen Lebens in der täglichen Rechts- und Gerichtspraxis bereitet. Sie formuliert Lösungen, ohne die Probleme zu kennen – und ohne sie kennen zu wollen.
Mir geht es darum, einen Blick auf die praktischen Schwierigkeiten zu lenken, wie ich sie aus meiner täglichen Arbeit kenne, und im Anschluss hieran mögliche Lösungsansätze jenseits der „Digitalcharta“ zu formulieren.
I. Die Herausforderungen
In einem Punkt besteht wohl Einigkeit: Die Vernetzung und Digitalisierung des privaten und öffentlichen Lebens in den vergangenen 20 Jahren hat sehr große Veränderungen in unserer Gesellschaft und in der weltweiten Wirtschaft hervorgebracht. Und sie sind noch nicht abgeschlossen; im Gegenteil: Die größten Veränderungen stehen uns noch bevor.
Diese Entwicklungen ändern die Spielregeln unserer Gesellschaft, oft auch unbemerkt. Und dabei verschieben sich Macht- und Kräfteverhältnisse. Staatliche Macht wird ausgehöhlt, Wirtschaftsmacht konzentriert sich still und heimlich, und es entstehen Abhängigkeiten, welche die bisherigen Beziehungen komplett neu definieren. Diese Veränderungen sind so flächendeckend und vielschichtig, dass der Versuch scheitern muss, sie kurz zusammenzufassen. Lediglich exemplarisch seien drei Komplexe genannt:
Erstes Beispiel: Soziale Netzwerke
Facebook wurde zuletzt heftig dafür kritisiert, die Ausbreitung von „fake news“ befördert zu haben. Facebook wird auch vorgeworfen, mit falschen Standards zwar nackte Brüste zu bekämpfen, aber Hass und verbale Aggression zu dulden. Das kann und muss man mit Recht kritisieren. Aber das ist nur ein winziger Teil des Facebook-Problems, das in Wirklichkeit viel größer ist. Facebook sitzt mit seinen Servern und Programmierern in den USA und hält sich ausschließlich an US-Recht. Das Unternehmen ignoriert weitgehend die Rechtsordnungen der Länder, in denen es geschäftlich tätig ist und missachtet Gerichtsurteile.
Ohne in alle Details gehen zu wollen: Unzählige Bestimmungen der ebenso unzähligen Facebook-AGB-Regelsammlungen sind hierzulande unzulässig – und von Gerichten zum Teil für unwirksam erklärt worden. Die Datenverarbeitung durch Facebook ebenso. Facebook mischt nach Belieben die Personendaten aus den Profilen mit den Nutzungsdaten seiner Nutzer, die es – selbst wenn sie ausgeloggt sind – weiter trackt. Sogar das Verhalten von Dritten, die Facebook nicht nutzen, wird getrackt. Facebook stellt Analysetools für Mobilfunk-Apps (Facebook Analytics für Apps) her, welche ebenfalls das Nutzerverhalten verfolgen und – bis in kleinste Details – mit den persönlichen Daten aus dem Profil verbinden. Ohne Zustimmung des Nutzers – jedenfalls ohne wirksame Zustimmung.
Niemand hinterfragt diese Praxis, prüft die AGB, greift sie an. Facebook entzieht sich den Regelungen zur Verantwortung des Plattformbetreibers. Während man dem Ebay der frühen Jahre noch strenge Vorgaben zur Verantwortlichkeit für rechtsverletzende Inhalte (von Marken– und Designverletzungen bis hin zum Verstoß gegen Vorschriften des Jugendschutzes) machte, ignoriert Facebook selbige weitgehend. Was kann man aber dagegen tun? Bisher: Fast nichts. Anders als beim Supermarkt um die Ecke, der bei derart systematischen Regelverstößen sofort seine Kundschaft quitt wäre, ist Facebook keinerlei Wettbewerb ausgesetzt. Und ist zugleich fast schon eine essential facility – kaum ein Unternehmen, das sich nicht auf Facebook präsentiert, das sich nicht für eine Schar Follower und eine satte Zahl Likes den Regeln und „Gemeinschaftsstandards“ der Datenkrake unterwirft. Oft, um im Gegenzug einen kleinen Teil der Facebook-Daten über seine Nutzer präsentiert zu bekommen (über das eben erwähnte Facebook Analytics).
Die schiere Größe Facebooks – sowohl in puncto Nutzer also auch in puncto Inhalte – und die Anzahl der Verstöße machen eine effektive Durchsetzung des Rechts fast unmöglich. Gelegentlich klagt der Verbraucherzentrale Bundesverband gegen einzelne AGB-Bestimmungen – Mikrokosmetik bestenfalls. Das, was Facebook „Gemeinschaftsstandards“ nennt, und was in Wirklichkeit mit Gemeinschaft nicht das geringste zu tun hat, ist de facto geltendes Weltrecht für die Online-Kommunikation. Geschrieben von US-Juristen im Auftrag von Facebook. Der Staat hat hier faktisch keine Macht mehr. Als der Hamburger Datenschutzbeauftragte Johannes Caspar – trotz erheblicher Bedenken gegen seinen Zuständigkeit – im September 2016 Facebook den Datenabgleich mit Whatsapp untersagte, welche Möglichkeit hatte er, das Recht durchzusetzen? Die Einhaltung zu überprüfen? Der Server von Whatsapp ist ebenso wie derjenige von Facebook in den USA.
Wir wissen schlicht nicht, was Facebook mit unseren Daten macht. Was beliebt ist, ist auch erlaubt. Wenn die Kartellbehörde ein Unternehmen wegen des Verdachts auf wettbewerbswidrige Absprachen durchsucht, marschiert sie erst einmal in den Serverraum und klemmt den Router ab. Dann werden die Rechner einkassiert. Wie soll das bei einem Cloud-Server gehen? Vor allem aber nimmt Facebook erheblichen Einfluss auf die demokratische Meinungsbildung. Und das nicht erst, seit man Fake-News für den Wahlerfolg von Donald Trump verantwortlich macht. Facebook-Algorithmen produzieren, ohne dass wir es merken, Filterblasen und leiten uns nur noch inhaltlich gefilterte Informationen zu. Wer nur die Hälfte weiß, weiß gar nichts. Unsere Meinungsbildung wird manipuliert. Zugleich informieren sich immer mehr – insbesondere junge – Menschen ausschließlich oder überwiegend über Facebook. Facebook übernimmt zudem die Rolle des Vermarkters für die klassischen Medienhäuser – mit dem Ziel weiterer Werbeeinnahmen. Welche – und wessen – Informationen landen noch beim Wähler?
Zweites Beispiel: Systemhoheit
Google ist nicht nur Betreiber der Suchmaschine, sondern auch faktischer Herr über unsere Smartphones, diese kleinen Universalfernbedienungen unseres Lebens, die uns den Zugang zu so vielen Inhalten gewähren. Die Geräte sind ohne das Betriebssystem Android (ersetze: iOS für Apple-Geräte) praktisch wertlos, teurer Schrott.
Google entscheidet faktisch darüber, welche Software wir in welcher Version wann auf dem Gerät verwenden. Man kann sich gegen Updates eine Zeitlang wehren, bis der weitere Betrieb versagt wird und auch kaum noch Apps auf der alten Plattform laufen. Oder man lässt sie zu; dann bestimmt Google per ständiger Fernwartung, einschließlich Fernüberwachung über die Funktionen und die Bedingungen der Nutzung meines Kommunikationsgeräts. Meines Geräts. Das mir aber nur noch symbolisch gehört.
Apple hat die Geräte, bei denen der „Home“-Button nicht von einer autorisierten Werkstatt repariert wurde, kurzerhand stillgelegt: „Error 53“. Mein Gerät, meine Reparatur, meine Entscheidung – sollte man meinen. Das ist aber nicht so. Apple entscheidet. Wir haben keine CDs mehr, sondern zahlen für den Abruf per Streaming. Die Auswahl ist riesig, sicher. Aber Google und Apple besitzen damit auch unsere Musik. Und „vermieten“ sie uns. Wer aufhört, monatlich zu zahlen, hat keine Musik mehr. Und keine Filme mehr. Wer sich nach Auffassung von Google oder einem anderen Bloghoster ungebührlich benimmt, dem wird der Blog genommen. Gesperrt. Oder gelöscht. Und die Arbeit vieler Jahre ist dahin.
Wir werden zu Besitzlosen, die für Dinge, die ihnen früher gehörten, nun Miete zahlen. Und nie sicher sind, dass sie ihnen nicht doch genommen werden. Google betreibt auch die Cloud, in der unsere Fotos, Videos, unsere Texte und Blogs gespeichert sind. Mit einem Mausklick ist alles weg. Und wenn die Daten in die falschen Hände geraten, gehen intime Fotos in Sekunden um die Welt. Doch die Herrschaft der Daten über die Hardware hat erst begonnen. Im Zeitalter der 3D-Drucks und der Digitalisierung der Produktion werden Maschinen verkauft oder vermietet, die nur noch mit den entsprechenden CAD-Dateien derjenigen laufen, welche die Rechte an der CAD-Datei haben. Wem werden diese Daten gehören? Wer wird den Rahm der industriellen Fertigung abschöpfen? Wie werden sich die Machtverhältnisse in der Industrie verlagern?
Drittens: Zahlungsdaten
Eine großer Anteil der Zahlungen heute wird unbar durchgeführt. Auch dies eine Entwicklung, die sich beschleunigen wird. Sicher, es gibt (noch) unterschiedliche Anbieter von Zahlungssystemen. Bedenklich ist allerdings, dass inzwischen auch die zwei großen Mobiltelefon-Systembetreiber Google und Apple eigene Zahlungssysteme anbieten und sich damit – zu den Internet-Nutzungsdaten – auch den Zugriff auf die Zahlungsdaten sichern. Allen Systemen gemeinsam ist, dass die Wege der Zahlungen zu den Bankkonten der Einzelnen führen. Und zwar über Clearingstellen, die großen Datenkreuzungen der Zahlungswelt.
Der Fluss der Zahlungsdaten ist so reich an werthaltigen Informationen wie kaum ein anderes Datenpaket. Und was wertvoll ist, hat seinen Preis und seine Abnehmer. Big Data gegen unser kleines Bankgeheimnis, große Chancen gegen ahnungslose Zahler. Scoring mit ganz neuen Methoden; eine nach Namen und Stockwerken sortierte Karte der Kaufkraft in unserem Land – und in allen anderen.
Diese – und viele andere – Herausforderungen der digitalen globalisierten Welt sind da. Und sie sind groß, sehr groß. Und es ist richtig, die Frage zu stellen, wie wir ihnen begegnen. Und es ist auch richtig, hierauf Antworten zu suchen. Bis hierhin – und nur bis hierhin – folge ich den Initiatoren der „Digitalcharta“.
Ab hier beginnt das große Missverständnis. Und das geht offenbar nicht nur mir so.
II. Wir brauchen nicht noch mehr Grundrechte
Kurz ein Wort zu Grundrechten, die – solange wir nicht Verfassungsrichter sind – in der juristischen Alltagspraxis quasi keine Rolle spielen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu zahlreichen Fällen zeigt, dass unsere Grundrechte schon ziemlich umfassend sind. Sie lassen Raum für eine Weiterentwicklung und Neuinterpretation, man denke nur an die Verfassungsgerichtsurteile zur informationellen Selbstbestimmung (Datenschutz) und zur Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (IT-Grundrecht).
Diese Grundrechte haben – anders als in anderen Rechtsordnungen – echtes Gewicht. Sie sind nicht symbolisch, nicht pathetisch-feierlich, sondern praktisch und wirksam. Ihre Wirksamkeit zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Gesetzgeber sie im Rahmen der Erweiterung der Befugnisse der Sicherheitsbehörden seit 2001 immer wieder ausdrücklich eingeschränkt hat – und dass das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber dabei immer wieder zurückgepfiffen hat. Wären sie Papiertiger, könnte man über sie hinweggehen, und ein Verfassungsgericht würde darüber bedächtig nicken. Das heißt nicht, dass ich die jetzigen Einschränkungen für gut oder angemessen oder notwendig halte.
Allerdings sind diese Grundrechte – wie schon mehrfach in der Diskussion erwähnt – ausschließlich Abwehrrechte gegen den Staat. Grundrechte sind der Maßstab für unser Recht; sie gewähren dem Einzelnen aber keine subjektiven Rechte, welche er einklagen könnte. Wer in einem Gerichtsverfahren nur mit seinen Grundrechten bewaffnet ins Feld zieht, wird vom Richter noch nicht einmal Mitleid erwarten dürfen.
Eine wahllose Dopplung von Grundrechten, wie sie die Digitalcharta vornimmt (vergleiche Artikel 5), ergänzt um einige adressatenlose Programmsätze und die Ausweitung auf „Private“ lösen kein einziges praktisches Problem, sondern entwerten die bestehenden Grundrechte und machen sie ohne Not zu kleiner Münze. Beispiel: „Jeder hat ein Recht auf Sicherheit von informationstechnischen Systemen und der durch sie verarbeiteten Daten.“ Wer ist hier wozu verpflichtet?
Diese „Grundrechte“ taugen noch nicht einmal als Arbeitsanweisung an – ja, wen eigentlich? Die EU? Die Mitgliedsstaaten? Die nationalen Behörden? Facebook oder Google?
III. Des Pudels Kern
Und damit sind wir beim eigentlichen Thema. Die Zielrichtung der „Grundrechte“ der Digitalcharta ist eine andere: Hier soll die machtlose Einzelperson („Jeder Mensch“) gegen die mächtigen Spieler in der Wirtschaft des Internetzeitalters geschützt werden. Die freilich nicht namentlich genannt werden.
Der Einzelne soll Schutz gegen die Degradierung zum bloßen Objekt einer wilden Datensammelei erhalten (Artikel 1, 7 und 11) . Er soll selbst über die Weitergabe und Verwertung seiner Daten als seines Eigentums bestimmen (Artikel 11, 12 und 13) und diese Entscheidungen auch wieder rückgängig machen dürfen (Artikel 18). Er soll teilhaben an den Erträgen seiner „Immaterialgüter“, wobei nicht klar ist, ob dies konkret im Sinne von Schutzrechten oder allgemein im Sinne von „Ergebnissen der eigenen Arbeit“ gemeint ist (Artikel 22). Er soll Zugang zum Internet und zu einer vielfältigen und pluralen Meinungs-, Kultur- , Medien- und und Informationslandschaft haben, an der er teilhaben und in der er am Diskurs teilnehmen kann (Artikel 2, 5, 15, 16 und 17).
Der Schutz des Einzelnen vor dem Staat spielt in diesem Katalog nur eine sehr untergeordnete Rolle. Er äußert sich im Schutz des Einzelnen vor allzu weitgehenden Befugnissen der Sicherheitsbehörden (Artikel 4), dem Transparenzgebot (Artikel 9) und dem Recht zur Teilnahme an Wahlen (Artikel 15). Die Bestimmungen zur Netzneutralität (Artikel 16) und die Unversehrtheit der Wohnung (Artikel 10) richten sich nur scheinbar und nur teilweise an den Staat; sie gelten genauso gegenüber Privaten (man denke etwa an Amazon Echo, den stets mithörenden Lautsprecher in der eigenen Wohnung).
Es wird sehr deutlich, dass die „Grundrechte“ in Wirklichkeit darauf zielen, die Macht von Unternehmen wie Apple, Google, Amazon oder Facebook einzuschränken. Das steht aber nicht in der „Digitalcharta“. Man hätte sie „Lex Facebook“ nennen können, aber damit schafft man es weder ins Feuilleton noch ins Europaparlament. Das ist nicht groß, es fehlt die Vision, es ist nicht sexy. Vermutlich gewinnt man noch nicht einmal die Initiatoren mit ihrem guten Namen. Ganz zu schweigen davon, dass man sich nicht viele Freunde macht, aber mächtige Feinde. Und so spielen diese Unternehmen, denen unsere Sorgen zuallererst gelten, in dem Entwurf die Rolle des Elefanten im Raum. Alle wissen, dass er da ist, aber keiner nennt ihn bei Namen.
Und noch ein Tier steht da im Raum. Eine heilige Kuh. Die Anonymität im Internet. Das Recht auf das Pseudonym, auf den Nick, auf die geschützte Identität. Ein Pseudonym kann aber nicht wirksam Rechte geltend machen. Wem genau sollen sie zustehen? Speedy0815? Auch deshalb klingen die Formulierungen der Charta so vage. „Ist sicherzustellen“ heißt es in Artikel 5, 7 und 12, „ist zu gewährleisten“ in Artikel 8, 13, 16, 17, 21. Von wem? Gegenüber wem? Ach ja, Artikel 1 Absatz 3: „Die Rechte aus dieser Charta gelten gegenüber staatlichen Stellen und Privaten.“ Das Internet soll für den Einzelnen frei und unschuldig bleiben, aber ohne dass er diese Rechte einfordern oder durchsetzen soll. Big Brother soll es richten. Ich selbst bleib anonym.
IV. Wo liegen unsere Probleme wirklich?
Wer gegen einen Datenleviathan wie Facebook oder Amazon kämpft und von ihm Auskünfte nach Datenschutzrecht, die Entfernung rechtsverletzender Inhalte oder die Löschung eines beleidigenden Kommentars oder eines intimen Fotos fordert, braucht alles, nur keine Grundrechte. Er braucht:
- einen langen Atem. Es kommt fast immer zum Prozess.
- einen spezialisierten Anwalt.
- Geld. Oft viel Geld.
- eine große Portion Idealismus.
Der Lästigkeitswert eines Vorgehens ist gigantisch und wird von den Unternehmen bewusst so hoch gehalten. Die Auseinandersetzung ist geprägt von einer abschreckenden Asymmetrie, von prozessualen Formalien und Hürden über die Verantwortlichkeit des Plattformbetreibers bis hin zum Geld, dem fast alles entscheidenden Faktor. Und natürlich davon, dass man einem Unternehmen, das aus wenig mehr als einem Server irgendwo auf dieser Welt besteht, kaum mit Sanktionen beikommen kann.
1. Formale Hürden
Reden wir nur einmal von den Hürden des förmlichen Verfahrens, von den prozessualen Hindernissen, die in einem Rechtsstaat aus gutem Grund bestehen: Unternehmen wie Amazon agieren arbeitsteilig mit zahlreichen Gesellschaften innerhalb der EU, und es fällt oft schon schwer herauszufinden, wer der richtige Gegner für den Rechtsverstoß ist. Schreibt man eine Amazon-Gesellschaft an, erhält man Post von einer anderen Gesellschaft. Die – ohne namentlich genannten Ansprechpartner, ohne Unterschrift – vorgibt, die Interessen einer weiteren Amazon-Gesellschaft zu vertreten. Und die Ansprüche zurückweist.
Der gemeinsame Markt erlaubt es Unternehmen, sich dort niederzulassen, wo für sie die Rechts- und Steuerlage am günstigsten ist. Für Facebook ist dies Irland. Es bedurfte erst diverser gerichtlicher Verfahren, bis Facebook überhaupt akzeptierte, in Deutschland vor deutschen Gerichten nach deutschem Recht verklagt zu werden.
Schafft man es aber doch einmal, ein rechtskräftiges Urteil zu erstreiten, bedeutet dies noch lange nicht, dass man es auch durchsetzen kann. Schon die Androhung von Ordnungsmitteln – in Deutschland das übliche Procedere, um gerichtliche Verbote durchzusetzen – ist gegenüber Gesellschaften im Ausland nicht ohne weiteres möglich. Es ist mit vertretbarem Aufwand kaum möglich, deutsche Ordnungsgelder im EU-Ausland beizutreiben, geschweige denn Ordnungshaft an dem dortigen Geschäftsführer zu vollziehen.
Auch die Zustellung von Klagen, einstweiligen Verfügungen, Ordnungsgeld- oder sonstigen Anträgen im Ausland ist mühselig. Sie müssen im Normalfall übersetzt werden, was die Anlaufkosten zusätzlich zu den Kosten für Anwalt und Gericht noch einmal in die Höhe treibt.
Wenn man obsiegt, erhält man vielleicht einen Kostenfestsetzungsbeschluss, also einen Titel, mit dem die Gegenseite verpflichtet wird, die angefallenen Kosten zu tragen. In Deutschland ist dieser Titel ohne weiteres vollstreckbar. Im EU-Ausland bedarf es wiederum einer Übersetzung, einer Zustellung, und – wenn die Gegenseite dann noch nicht zahlt – einer Vollstreckung. Auch hier wieder mit Übersetzung und Zustellung und mit den Kosten des Anwalts vor Ort. Der kostet in Irland ein Vielfaches von dem, was an Kosten zu erstatten ist.
Überhaupt die Kosten: Die Streitwerte für Unterlassungs- und Löschungsansprüche, die nicht von Unternehmen wegen gewerblicher Schutzrechte (Marken, Patente) geltend gemacht werden, sondern von Privaten, sind meist gering. Sie bewegen sich im vierstelligen Bereich. Und nach diesen Streitwerten bemisst sich das erstattungsfähige Honorar des Anwalts nach Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG). Der Anwalt verdient nach RVG an einem einstweiligen Verfügungsverfahren ca. 500 bis 600 Euro – für wochenlange Arbeit. Die Anwälte von Facebook verdienen 300 bis 600 Euro in der Stunde. Sie sind jederzeit motiviert, die Sache bis zum Ende durchzustreiten, auszusitzen, zu blockieren. Bis der Gegner entnervt aufgibt und sein Anwalt sich schwört, nie wieder gegen Facebook Ireland wegen der Verletzung des Rechts am eigenen Bild oder wegen eines ehrverletzenden Artikels vorzugehen. Es sei denn, sein Mandant zahlt ihm Stundenhonorar.
2. Verantwortlichkeit
Die nächste Hürde ist die Frage nach der Verantwortlichkeit des Plattformbetreibers für die Inhalte seiner Nutzer – auch dies übrigens eine Folge der Anonymität dieser Nutzer. Denn wenn die Nutzer namentlich nicht bekannt sind, kommen nur die Betreiber der Plattform als Gegner infrage.
Wo es also nicht um rechtswidrige AGB, um rechtswidrige Datensammel- und verarbeitungspraktiken geht, also um eigene Verstöße des Plattformbetreibers, sondern um Beleidigungen, Marken- oder Urheberrechtsverletzungen, um Falschdarstellungen oder sonstige Rechtsverstöße von Nutzern einer Plattform, dort stellt sich für den Plattformbetreiber die berechtigte Frage: Was habe ich damit zu tun? Ich stelle doch nur die Infrastruktur bereit! Und diese Antwort ist berechtigt, solange der Plattformbetreiber von Rechtsverstößen nichts weiß. Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß.
Und wenn der Plattformbetreiber dann weiß, dass sich auf seiner Plattform bestimmte Inhalte befinden, heißt es noch lange nicht, dass er sie auch entfernen muss. Woher soll er wissen, wem die Rechte zustehen? Wen das Bild zeigt? Ob die Behauptung stimmt oder falsch ist? Ob das abgebildete Produkt ein Original oder eine Fälschung ist? Ob ein böser Kommentar schon eine strafbare Beleidigung bildet?
Auch wenn der Ton in Diskussionen teilweise ruppig bis unverschämt ist, muss dies noch keine Verantwortlichkeit des Plattformbetreibers zur Löschung, Sperrung oder zum Ausschluss eines Nutzers auslösen. Nicht jedes subjektiv empfundene Mobbing, jede – auch massenhaft geäußerte – Kritik an einem Beitrag ist auch rechtlich sanktionierbar. Die aktuelle Polarisierung des politischen Diskurses führt zu immer radikaleren Meinungsbildern, deren Äußerung aber dennoch meist unter die Meinungsfreiheit fällt.
Die Forderung nach der „sofortigen Ausweisung aller kriminellen Ausländer“ mag rechtlich und politisch Unfug sein – sie fällt unter die Meinungsfreiheit. Das ist für einen liberal denkenden Menschen manchmal schwer zu ertragen, aber es ist der Preis der Meinungsfreiheit. Der Ton in sozialen Medien, in Zeitungs- und Meinungsforen ist manchmal beängstigend, aber dies ist zuallererst ein gesellschaftliches Problem von Anstand und Respekt und keines, das wir ausschließlich beim (Straf-) Recht ansiedeln und bei den Plattformbetreibern abladen sollten.
Insofern ist der kaum verhüllte Ruf nach einem „Big Brother“, der „digitale Hetze, Mobbing sowie Aktivitaten, die geeignet sind, den Ruf oder die Unversehrtheit einer Person ernsthaft zu gefahrden“, unterbinden soll (Artikel 5 der Digitalcharta) eine Einladung zur Einschränkung der Meinungsfreiheit, eine Aufforderung an den Staat, sein Verständnis von Anstand und Respekt (das je nach Regierungsmehrheit wechseln kann) an die Stelle der Meinungsfreiheit zu setzen. Es bedarf kaum eines Rückgriffs auf die Geschichte, um zu erkennen, wie fatal eine solche Regelung wäre. Demokratie braucht Meinungsfreiheit, braucht Streit, manchmal auch heftigen Streit. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der Anstand in dieser Diskussion gewahrt wird. Wenn jeder seine Meinungsfreiheit unterhalb der Strafbarkeitsgrenze ausreizt, haben wir bald die Hölle auf Erden.
Eine Verantwortlichkeit des Plattformbetreibers entsteht aber erst, wenn er von Inhalten auf seiner Plattform Kenntnis erlangt, die für ihn erkennbar einen Verbotstatbestand erfüllen (Strafnorm, Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums, Verstoß gegen Vorschriften zum Jugendschutz und andere).
Umso wichtiger ist, dass er – mehr als bisher – zur Verantwortung gezogen wird, wenn es tatsächlich um erkennbar rechtswidrige Inhalte geht, um Bedrohung, Nötigung, gefälschte Zitate, um Verleumdung, Persönlichkeitsverletzung und die öffentliche Aufforderung zur Begehung von Straftaten. Hier trifft ihn ab Kenntnis eine eigene Haftung. Und diese Haftung muss konsequenter durchgesetzt werden – straf- und zivilrechtlich.
Und noch ein Punkt sollte beachtet werden: Wer sich – wie Facebook bis vor kurzem – formularmäßig und für eigene Zwecke unentgeltlich weltweite Nutzungsrechte an allen von Nutzern eingestellten Bildern und Fotos einräumen lässt, verbunden mit der ebenso formularmäßigen Zusicherung des (häufig minderjährigen) Nutzers, alle hierzu erforderlichen Rechte zu besitzen, kann sich nicht ohne weiteres auf das Haftungsprivileg des Plattformbetreibers zurückziehen. Ob er als Täter haftet, ist eine andere Frage.
Tatsächlich besteht das Geschäftsmodell von Facebook nämlich auch darin, sich für die Veröffentlichung von Medieninhalten auf seiner Plattform von Medienunternehmen bezahlen zu lassen, also Inhalte gezielt nach dem mutmaßlichen Interesse seiner Nutzer bereitzustellen und/oder zu verlinken, um Einnahmen aus zielgruppenoptimierter Werbung zu erzielen. Wer aber selektiert, dem darf man mit Fug und Recht Kenntnis unterstellen.
Dagegen dürfte eine „Freiheit von Algorithmen“, das Recht auf eine „ungefilterte Wahrheit“ kaum durchzusetzen sein. Facebook ist eine Dauerwerbeveranstaltung. Der einzige oder zumindest Hauptgeschäftszweck besteht in der Vermarktung von Werbezielgruppen gegenüber werbenden Unternehmen. Man wird Facebook kaum verbieten können, seinen Nutzern diejenigen Inhalte nahezubringen, von denen es meint, dass sie ihr Interesse wecken – und damit weitere Werbeeinnahmen generieren. Das ist der Sinn des Geschäfts.
Das Informationsgrundrecht des Artikels 5 richtet sich nicht an Facebook; wer ungefilterte Informationen möchte, muss sich aus erster Hand informieren, Zeitung lesen oder den öffentlich-rechtlichen Rundfunk konsultieren. An ihn richtet sich der Informationsauftrag. Im Übrigen sind die kritisierten Algorithmen in etwa dieselben, die auch die Auswahl auf der Verkaufsplattform Amazon beeinflussen – und von vielen Nutzern geschätzt werden: Nutzer, die sich X angesehen haben, haben sich auch für Y interessiert. Wo ist der Algorithmus gut, wo ist er schlecht?
3. Vollzugs- und Sanktionsdefizit
Vor allem aber besteht im Verhältnis zu internationalen Unternehmen, welche ausschließlich oder überwiegend digital agieren, ein eklatantes Vollzugs- und Sanktionsdefizit. Das liegt zum einen daran, dass es zwar einen gemeinsamen Markt und teils gemeinsame, zumindest aber harmonisierte gesetzliche Vorschriften gibt, die vollziehenden Gerichte und Behörden aber weiterhin nur für ihren Mitgliedsstaat zuständig sind und die Gesetze nur innerhalb ihrer Grenzen wirksam vollziehen können. Zum anderen sind Unternehmen der digitalen Wirtschaft weniger verwundbar, weil ihr Hauptbetriebsmittel die Daten sind, welche leicht vor Zugriffen geschützt werden können, und weil ihr Sitz an jedem beliebigen Ort der Welt mit Internetanschluss sein kann.
Ein lokal oder national agierendes Unternehmen, das sich nicht an behördliche oder gerichtliche Auflagen hält, wird sanktioniert. Einem Lebensmittelunternehmer, der behördliche oder gesetzliche Auflagen nicht einhält, droht im schlimmsten Falle die Schließung seines Betriebs durch die untere Lebensmittelbehörde. Ein gerichtliches Verbot an ein in Deutschland ansässiges Unternehmen kann durch empfindliche Ordnungsmittel – Ordnungsgelder bis 250.000 EUR je Verstoß, Ordnungshaft des Geschäftsführers – wirksam durchgesetzt werden.
Ein gerichtliches Verbot an ein Unternehmen, dessen einziger Geschäftsgegenstand Data Mining aus im Internet zugänglichen Daten ist, hat in der Regel keinen Geschäftsbetrieb in Deutschland. Ein Verbot ist schwer zu erwirken und faktisch nicht durchzusetzen. Eine Verhängung von Ordnungsmitteln gegenüber Facebooks EU(!)-Zentrale mit Sitz in Irland, deren Geschäftsführer US-Amerikaner sind, die nur in Ausnahmefällen tatsächlich einmal in Irland sind, kann ebenfalls nur schwer durchgesetzt werden. Die Verhängung eines Ordnungsgeldes erfordert maximalen Aufwand für den Antragsteller (siehe oben), aber seine Wirkung verpufft weitgehend. Zumal es eigentlich die Gerichte selbst sind, die für die Beitreibung des Ordnungsgeldes in Irland sorgen müssten – auch wenn jetzt geklärt ist, dass der Kläger selbst die Durchsetzung betreiben kann.
Jeder Gewerbetreibende in Deutschland muss damit rechnen, dass ihm bei mangelnder Zuverlässigkeit die weitere Ausübung seines Gewerbes untersagt wird – und zwar gegebenenfalls mit sofortiger Wirkung. Unternehmen, welche dagegen von außerhalb Deutschlands hierzulande im großen Stil personenbezogene Daten erheben, speichern und verarbeiten, welche über riesige Datenmengen verfügen, die unser digitales Leben dokumentieren, unterliegen dagegen keiner wirksamen Kontrolle. Ihre Zuverlässigkeit für den Umgang mit den sensiblen personenbezogenen Daten wird nicht geprüft, ebensowenig wie die Einhaltung gesetzlicher Vorgaben.
Behörden und Gerichte sind mit der weltweit vernetzten digitalen Wirtschaft überfordert. Nicht zuletzt dieser Umstand führt dazu, dass die beteiligten Großunternehmen (aber auch kleine Anbieter) auch mit dem Steuerbehörden Katz und Maus spielen können.
Aus dem Vollzugs- und Sanktionsdefizit folgt ein weiteres Problem: Es gibt keine wirksame Abschreckung gegen unlauteres Verhalten im digitalen Verkehr. Wer nie mehr als einen mahnenden Zeigefinger befürchten muss, wer nie damit rechnen muss, dass es ihm bei Missachtung des Rechts ans Geld oder an die Substanz seines Unternehmens geht (von den eigenen Anwaltskosten abgesehen), der lässt sich nicht dauerhaft zu lauterem Verhalten bewegen. Ohne Geschwindigkeitskontrollen auf deutschen Straßen ist ein Tempolimit wirkungslos.
V. Was ist zu tun?
Die gute Nachricht ist: Es gibt wirksame Maßnahmen, die dazu beitragen können, den Ungleichgewichten und Unwuchten in der digitalen Gesellschaft und Wirtschaft entgegenzusteuern. Die schlechte Nachricht: Es sind keine Neuerungen, die das Zeug zu einer „gesellschaftlichen Debatte“ haben. Die Einführung einer „Digitalcharta“ ist jedenfalls nicht darunter.
Eine Vielzahl von kleineren, eher rechtstechnisch anmutenden Maßnahmen kann Unternehmen in der digitalen vernetzten Wirtschaft wirksam dazu anhalten, Gesetze besser zu respektieren und die Rechte ihrer Nutzer und Kunden besser zu achten. Einige dieser Maßnahmen können sofort und ohne Zutun des Gesetzgebers umgesetzt werden. Für andere muss der deutsche und gegebenenfalls der europäische Gesetzgeber tätig werden.
1. Gründung eines Wettbewerbsverbands der digitalen Wirtschaft
Wichtig wäre – jedenfalls für die Durchsetzung des Rechts in Deutschland – ein Wettbewerbsverband der digitalen Wirtschaft. Die Einhaltung der Gesetze wird in Deutschland zwar auch von Behörden überwacht. Mindestens ebenso wirksam ist aber die Überwachung durch Wettbewerber. Gerade mittelständische deutsche Unternehmen, die dem direkten Zugriff der deutschen Behörden unterliegen, haben ein Interesse daran, ihre internationale Konkurrenz zur Einhaltung der hier geltenden Gesetze anzuhalten. Das deutsche Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb gibt dem Konkurrenten die Möglichkeit, Rechtsverstöße abzumahnen und – falls der Abgemahnte sich nicht zur Unterlassung verpflichtet – in kürzester Zeit im einstweiligen Rechtsschutz vor Gericht durchzusetzen.
Das Problem ist, dass der Konkurrent häufig nicht selbst klagen möchte, weil er Vergeltungsmaßnahmen des Konkurrenten fürchtet. Auch möchte er nicht das finanzielle Risiko eines gerichtlichen Verfahrens tragen, dessen Ausgang nicht immer sicher ist.
Aus diesem Grund haben sich in zahlreichen Branchen Wettbewerbsverbände gegründet, in denen sich die Unternehmen der Branche zusammengeschlossen haben, um gemeinsam gegen Wettbewerbsverstöße vorzugehen. Ein Wettbewerbsverband, in dem die Mitglieder der digitalen Wirtschaft zusammengeschlossen sind, existiert nicht. Bis heute nehmen sich allein die Wettbewerbszentrale, der Wettbewerbsverband aller IHK-Unternehmen, und der Verbraucherzentrale Bundesverband dieser Aufgabe an und führen entsprechende Verfahren – leider viel zu wenige. Es fehlt an Kapazitäten, Expertise und an der Nähe zum Geschäft.
Hier wäre eine Initiative aus der Unternehmerschaft, etwa des Bitkom, gefragt. Ein Verband, der von Unternehmen der digitalen Wirtschaft in Deutschland getragen wird, wäre ein echter „digital competition watchdog“, der mangels eigenen Geschäftsbetriebs auch keine Nachteile im Wettbewerb befürchten müsste. Er hätte die nötige technische Kompetenz, Marktkenntnis und wirtschaftliche Ausstattung, um wirksam gegen Verstöße vorgehen zu können.
2. Gewinnabschöpfung
Gefragt ist der deutsche Gesetzgeber beim Thema Gewinnabschöpfung. Es existieren bereits Vorschriften im öffentlichen bzw. Strafrecht über (hohe!) Geldbußen für Unternehmen (zum Beispiel die Paragrafen 30, 130 Ordnungswidrigkeitengesetz), welche allerdings an die Feststellung der individuellen Schuld eines Verantwortlichen im strafrechtlichen Sinne geknüpft sind.
Dagegen gibt es im Wettbewerbsrecht die Möglichkeit, den Gewinn, der durch den vorsätzlichen Wettbewerbsverstoß „zu Lasten einer Vielzahl von Abnehmern“ erzielt worden ist, abzuschöpfen (Paragraf 10 des Gesetzes gegen unlauteren Wettbewerb). Allerdings kann dieser Anspruch nur von einem Verband geltend gemacht werden. Und außerdem ist dieser Gewinn an den Bundeshaushalt abzuführen. Entsprechend gering ist das Verfolgungsinteresse. Ich persönlich kenne keinen Fall, in dem ein solcher Anspruch geltend gemacht worden ist. Hier muss der Gesetzgeber ansetzen.
Neben Vorsatz muss auch „Kennenmüssen“, also grobe Fahrlässigkeit, für eine Haftung ausreichen. Und es muss einem klagenden Verband möglich sein, den Gewinn auf eigene Rechnung abzuschöpfen.
Hilfreich wäre außerdem eine Regelung, mit der eine widerlegliche Vermutung begründet wird, dass der Wettbewerbsverstoß ursächlich für den erzielten Gewinn ist. Denn der Kläger hat in der Regel keinen Zugriff auf das Datenmaterial und die Umsatzzahlen, anhand derer sich die konkrete Erzielung des Gewinns aus diesem konkreten Verstoß nachweisen ließe. Der Nachweis, dass ein Wettbewerbsverstoß zu einem Gewinn geführt hat, ist von einem Kläger faktisch nicht zu führen. Das liegt nicht nur daran, dass der Kläger keinen Einblick in die Bücher des Beklagten hat.
Die Geschäftsmodelle in der Datenökonomie sind so komplex, dass sich ursächliche Zusammenhänge nicht so leicht nachweisen lassen, wie es bei einem Austauschverhältnis „Ware gegen Geld“ ist. Viele digitale Unternehmen finanzieren sich ausschließlich aus Werbeeinnahmen, indem sie zielgruppengenaue Werbung schalten. Wie kann nachgewiesen werden, dass ein Gewinn aus Werbeeinahmen seinen Grund (auch) in einem Verstoß gegen Vorschriften zum Datenschutz hat? Bei einer widerleglichen Vermutung müsste das beklagte Unternehmen seinerseits den Nachweis führen, dass der Verstoß gerade nicht zum Gewinn beigetragen hat. Das kann das Unternehmen eher, weil es über die entsprechenden Daten verfügt – die es dann freilich im Verfahren offenlegen müsste.
Mittelfristig ist es sinnvoll, darüber nachzudenken, wie man so agierenden Verbänden als competition watchdogs die Möglichkeit verschaffen kann, EU-weit gegen grenzüberschreitend tätige Unternehmen vorzugehen. Denn hierin liegt – siehe oben – eine maßgebliche Ursache für das Ungleichgewicht.
3. Offenlegung der Datenverwendung als Sanktion
Daten sind der Unternehmen größter Schatz in der digitalen Ökonomie. Dann sollten die Unternehmen auch verpflichtet werden, die Art der Nutzung der personenbezogenen Daten offenzulegen. Bisher gewährt das Telemediengesetz (Paragraf 13 Absatz 8) dem Einzelnen lediglich ein Recht, vom Diensteanbieter Auskunft über die zu seiner Person oder zu seinem Pseudonym gespeicherten Daten zu verlangen. Die Datenschutz-Grundverordnung (Artikel 15) erweitert dieses Recht unter anderem auf die Verarbeitungszwecke und auf die „Empfänger oder Kategorien von Empfängern, gegenüber denen die personenbezogenen Daten offengelegt worden sind oder noch offengelegt werden, insbesondere bei Empfängern in Drittländern oder bei internationalen Organisationen“.
Das ist ein wichtiger Schritt. Allerdings wird der Einzelne in der Regel seine Rechte nicht allein durchsetzen. Aus diesem Grund ist es wichtig, das Auskunftsrecht eines klagenden Verbands für den Fall des Verstoßes ebenfalls auf Verarbeitungszwecke und Empfänger von personenbezogenen Daten zu erweitern und um einen Löschungsanspruch zu ergänzen, um zu verhindern, dass dem Unternehmen die Früchte seines datenschutzrechtlichen Verstoßes bleiben.
4. Maßnahmen gegen die digitale Entkernung von Sacheigentum
Nicht sicher bin ich mir, wie man gegen die digitale Entkernung von Sacheigentum vorgehen kann. Die zunehmende Verschmelzung von Hard- und Software, von Ware und Dienstleistung (zum Beispiel Datencloud zum Smartphone) wird von den Anbietern zunehmend in ihrem Sinne gestaltet. Der Käufer, der ein elektronisches Gerät, zum Beispiel ein Smartphone oder Tablet mit einem bestimmten Funktionsumfang kauft, wird in seinem Eigentum eingeschränkt, wenn der Verkäufer oder Hersteller sich vorbehält, bestimmte Funktionen nach Gusto zu ändern, einzuschränken oder ganz zu streichen. Das betrifft nicht nur Smartphones, sondern auch TV-Receiver, Streaming-Musiksysteme und andere Elektronik, auf deren Betriebssystem und Software sich der Hersteller den Zugriff vorbehält.
Ein Ansatz ist eine rigorose AGB-Kontrolle bei der Ausgestaltung des Nutzungsverhältnisses. Die Dienstleistung ist nur ein Nebenprodukt; das Hauptprodukt bleibt die Ware. Entsprechend muss sich die Beurteilung des „Gesamtpakets“ nach Kaufrecht richten.
Es kann gegebenenfalls auch sinnvoll sein, im Kaufrecht die Rolle des Käufers zu stärken, der eine Sache kauft, deren Funktion über den Verkauf hinaus noch vom Verkäufer gesteuert wird. Ob hierzu aber eine Änderung des BGB-Kaufrechts erforderlich ist, oder ob die Rechtsprechung diese Fragen auf der Basis des bestehenden Rechts wird klären können, bleibt zunächst abzuwarten.
5. Rechtsdurchsetzung
Bei der Rechtsdurchsetzung könnte ausgerechnet die Digitalisierung selbst große Fortschritte bringen. Das Stichwort lautet: elektronische Zustellung.
Die zahlreichen Probleme, welche die grenzüberschreitende Rechtsdurchsetzung bereitet, könnten durch eine Digitalisierung des Zustellungs- und Vollstreckungswesens und durch eine praxisnahe Sprachregelung erheblich gemindert werden.
Schon heute können bei deutschen und europäischen Gerichten Schriftstücke in elektronischer Form eingereicht und auch zugestellt werden. Anders als noch vor kurzem kann ein gerichtliches Schriftstück – etwa eine Klageerhebung – auch in elektronischer Form förmlich bekannt gegeben werden. In Deutschland ist für Zustellungen an Anwälte das besondere elektronische Anwaltspostfach eingeführt worden.
Unternehmen, die in der EU von einem bestimmten Mitgliedsstaat aus (zum Beispiel Irland) in anderen Mitgliedsstaaten (zum Beispiel Deutschland) operieren, verdienen nicht denselben Schutz wie Verbraucher. Es ist ihnen zuzumuten, dass man Ihnen Klagen in der Sprache des Landes zustellt, in dem sie geschäftlich tätig sind – also ohne Übersetzung zum Beispiel ins Englische. Wer in Deutschland mehrere tausend oder gar Millionen Kunden auf Deutsch bedient, der darf die Annahme einer Klage oder eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung oder gar die Beschlussverfügung selbst in deutscher Sprache nicht verweigern. Die jetzige Regelung der Europäischen Zustellungsverordung (Artikel 8), die eine Verweigerungsrecht bei fehlender Übersetzung vorsieht, ist für digital tätige Unternehmen ein Schutz vor Klagen. Denn Übersetzungen von Klagen sind teuer und bilden ein effektives Prozesshindernis.
Es ist zudem sinnvoll, dass man an Unternehmen EU-weit Schriftstücke einheitlich elektronisch zustellen kann, wenn sie über ihr Sitz- oder Niederlassungsland hinaus im geschäftlichen Verkehr in der EU tätig sind. Sie benötigen dann eine EU-weit einheitliche elektronische Zustellungsadresse für gerichtliche Schriftstücke aus allen EU-Mitgliedsstaaten.
Auf ähnlichem Wege könnte dann auch die Vollstreckung vereinfacht werden. Die elektronische Zustellung von Titeln zum Zwecke der Vollstreckung innerhalb der EU könnte zum Beispiel die Kontenpfändung erheblich erleichtern. Das wäre ein weiterer Schritt hin zu einer einfachen und unproblematischen Prozesskostenerstattung, die nicht ihrerseits noch unverhältnismäßige Kosten produziert.
Entscheidend ist, Hürden bei der Rechtsdurchsetzung abzubauen. Nur so können auch die Unternehmen der digitalen Ökonomie zur Verantwortung gezogen werden. Dazu benötigen wir keine Grundrechte. Was wir brauchen, sind klare, einfachgesetzliche Regeln, die es zum Teil bereits gibt, und die zum Teil durch überschaubare Änderungen der bestehenden Gesetze erreicht werden können.
6. Wir können vorangehen – auch ohne die EU
Die zuvor geschilderten Maßnahmen sind nur ein Anfang. Ihr hauptsächlicher Pferdefuß liegt darin, dass sie keinen EU-einheitlichen oder sogar darüber hinausgehenden, gemeinsamen Ansatz bilden, sondern weiterhin im nationalen Recht gründen.
Das liegt aber in erster Linie daran, dass die EU nur eine sehr begrenzte Zuständigkeit für das Wettbewerbsrecht hat. Ihre Zuständigkeit leitet sich aus der Kompetenz für den Verbraucherschutz ab. Das deutsche Wettbewerbsrecht zielt aber auf den Schutz des Unternehmers vor dem unlauter handelnden Konkurrenten. Der Verbraucher wird hier nur mittelbar geschützt. Eine Regelung, mit der die Möglichkeit eines EU-weiten Vorgehens gegen Wettbewerbsverstöße geschaffen wird, ist im gemeinsamen Markt eigentlich überfällig, aber auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.
Doch das sollte uns nicht davon abhalten, Maßnahmen zu beschließen, die nur für Deutschland gelten. Regelungen für Deutschland haben eine sehr weitgehende faktische Wirkung für andere EU-Mitgliedsstaaten. Deutschland sitzt im Herzen der EU und ist ihr größter Mitgliedsstaat. Kein Unternehmen, das in der EU grenzüberschreitend tätig ist, kann es sich leisten, die Rechtslage in Deutschland zu ignorieren. Wir haben guten Grund voranzugehen.
Marc Pütz-Poulalion ist Fachanwalt für Gewerblichen Rechtsschutz und Partner der Kanzlei Gerstenberg Rechtsanwälte. Der Beitrag wurde zuerst im Blog Gerstenberg IP veröffentlicht und erscheint hier mit freundlicher Genehmigung in leicht gekürzter Fassung.
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