Der menschliche Faktor
Utopien müssen nicht weit weg liegen, weder zeitlich noch räumlich noch inhaltlich. Sie können uns auch im Hier und Jetzt überkommen, in ein paar Jährchen schon, mitten im Alltag, schleichend. Diesem Ansatz lassen sich die meisten Kurzgeschichten in „Helle Materie“ zuordnen, ein vor kurzem im Verlag Mikrotext erschienenes Buch der Berliner Autorin Sina Kamala Kaufmann.
Durch die insgesamt 13 Erzählungen weht ein kalter, dystopischer Wind, ganz ähnlich wie in den Episoden der Serie Black Mirror. Allerdings lassen die Black-Mirror-Macher ihre Zuschauenden meist mit düsteren, „Unhappy Ends“ zurück, denn sie sollen im Spiegel der Kurzgeschichten die dunklen, schwarzen Bereiche der menschlichen Seele reflektieren. Kaufmanns Bilder sind nicht ganz so radikal – und das Ende ihrer Geschichten ist offener.
Von innen nach außen
Meist bilden in „Helle Materie“ die Empfindungen, das Innenleben der handelnden Personen, den Ausgangspunkt für ein utopisch-dystopisches Szenario. In einer Geschichte geht der hinreichend als Selbstzweifler und Aufschieber skizzierte Paul zu einer Selbsthilfegruppe anonymer Prokrastinierer.
Als dort Mary erzählt, wie ihr ein ebenso neues wie krasses medizinisches Experiment geholfen hat, ihre Aufschiebesucht zu kurieren, erscheint seine spontane Abscheu zunächst sehr verständlich. Gleichwohl klingen das Sujet und die Heilmethode, die sich digitaler Technologien bedient, durchaus plausibel.
Damit folgt Kaufmann dem bei Black Mirror eingeführten Prinzip, sich ins Seelenleben ihrer jeweiligen Hauptfiguren einzunisten und von dort zum eigentlichen Problem vorzutasten. Das nimmt die Lesenden im Wortsinne mit und bringt sie der Grundidee der Erzählung näher.
Mitunter ist das verstörend, etwa bei der Geschichte „Wettbewerbswochen“, wenn die Protagonisten erst ihren Verstand, dann ihre Menschlichkeit zu verlieren scheinen. Mitunter ist es auch verblüffend amüsant. Etwa bei „Bundesnarr“, wo durchdekliniert wird, wie es jemanden ergehen kann, der als bewusst institutionalisierter Provokateur mit fast allen Freiheiten ausgestattet wird, um die gesetzgebende Politik unordentlich aufzumischen.
Der gesunde Menschenverstand heute und morgen
Meist balancieren die kurzen Erzählungen auf dem Grat zwischen dem, was der gesunde Menschenverstand der Jetztzeit von dem Neuen hält, und wie die Perspektive des nahen Morgen darauf aussehen könnte. Manchmal bleibt es zu unverständlich und geschwätzig, wie bei den fiktiven Gesprächen zwischen Bill (Gates) und Mark (Zuckerberg) oder Jonathan Meese, Peter Sloterdijk und Jan Böhmermann. Viele an sich interessante Ideen scheitern an einer etwas verschwurbelten Erzählweise wie bei der Geschichte „Opt-in Slavery“.
Kaufmann lässt den Lesenden viel Raum, sich mit den entworfenen Abbildern einer fast immer vorstellbaren Zukunft auseinanderzusetzen und dazu ein eigenes Verhältnis zu entwickeln. Dafür sorgen auch die oft als „Lösung“ angebotenen Epiloge, die einen rationalen Pfad zu dem anbieten, was manchmal zunächst abwegig erscheint.
Die meisten der 13 Erzählungen sind nachdenklich und rhythmisch, allerdings manchmal einen Tick für meinen Geschmack zu manieriert geschrieben. Teils sind sie auch etwas zu kurz (beispielsweise „Mutterlied“), um den vollen Effekt zu erreichen.
Doch auch diese Short Stories leben und profitieren davon, dass sie menschliche Schwächen beschreiben, die jeder kennt und entschuldigt. Ihnen gegenüber steht eine von Optimierung besessene Gesellschaft, die die menschliche Unvollkommenheit am liebsten ausmerzen will. Darin lässt sich so etwas wie die vereinende Moral der Geschichten sehen – und das eigentlich Dystopische.
Sina Kamala Kaufmanns „Helle Materie – Nahphantastische Erzählungen“, ist erschienen im Verlag Mikrotext, erhältlich als E-Book ( 6,99 €), ISBN 978-944543-71-0 und als Paperback (14,99 €), ISBN 978-3-944543-74-1, Januar 2019, www.mikrotext.de
1 Kommentar
1 Dr.Ci am 6. Juni, 2019 um 02:05
Die Kritik greift mir etwas zu kurz.
Und beißt sich immer wieder an der Dystopie fest.
zB”Opt in Slavery ” verschwurbelt erzählt ?
Ich sehe brillante utopische Ideen berühren erzählt, mit scharf beobachteten Charakteren. Auf menschliche Unvollkommenheit und
gesellschaftliche Optimierung zu reduzieren .Wird der unglaublichen Fülle an verblüffenden Gedankenspielen diese Buches nicht
gerecht.
Da gehe ich eher mit der Kritik des
Deutschlandfunks :
“es ist ein ganz neues Gere begründet worden”
Was sagen Sie dazu?