Der Buchmarkt im Schatten der Content-Mauer
Ich war noch ein Teenager, als meine Familie in Cherbourg ankam, um mit der Queen Elizabeth, dem legendären Ozeankreuzer der Cunard Line, in die Vereinigten Staaten zurückzureisen. Stolz hatte ich meinen Freunden erzählt, dass die RMS Queen Elizabeth über drei Meter länger war als ihr Schwesterschiff, die RMS Queen Mary. Wir fuhren mit unserem Volkswagen am Kai entlang, rechts von uns Lagerhäuser, links die lange, raue Mauer irgendeines dunklen Hafengebäudes.
„Wann kommt denn das Schiff?“ fragte ich meinen Vater.
Er zeigte auf die riesige verwitterte Mauer, die neben uns aufragte. „Das ist doch schon das Schiff, Junge.“
Jetzt, gegen Ende des Verlagsjahres 2015, denke ich an diesen Augenblick zurück, der damals in gewisser Weise das Ende einer Zeit der Unschuld markierte. Vielleicht besteht auch jetzt wieder die letzte Gelegenheit, aus dem Fenster zu schauen, diese lange, hohe, abweisende Mauer zu sehen und nicht zu begreifen, dass es sich dabei um den Wettbewerb handelt, der uns bevorsteht: gigantisch, unheilvoll, bedrohlich.
Der Markt wurde überschwemmt
Viele glauben fälschlicherweise immer noch, die Content-Mauer bestünde vor allem aus anderen Medien, also aus Videospielen, Filmen, Fernsehen und Musik.
Nein, die Content-Mauer ist ebenso sehr unser Werk wie das unserer Kollegen aus den anderen Medien. Wir haben zu viele Bücher verlegt. Und wir verlegen nach wie vor zu viele Bücher und überschwemmen damit unseren eigenen Markt.
Der Digitalisierung verdanken wir viel Gutes, aber eben auch, dass wir zwischen uns und unseren Kunden eine Content-Mauer aufgebaut haben, ohne es zu merken. Als wir im Londoner Branchenmagazin The Bookseller unsere Leserschaft fragten, wie sie die digitale Zukunft für die Verlagsbranche einschätzten, antwortete fast die Hälfte (49,7 Prozent), die Branche sei auf diese Zukunft nicht vorbereitet. Ganz meine Meinung. Und das ist übrigens nicht der Fehler der Verleger. Es gibt hier nicht die Bösen. Aber jede Art von Verlagsgeschäft – jede! – wird sich zukünftig im digitalen Kontext abspielen.
„Wie bitte?“ fragen Sie jetzt vielleicht als Kleinverleger der alten Garde, der Sie eisern an print only festgehalten und sich dem go digital verweigert haben. Aber kaum hat Ihr Kunde sich in dem staubigen, alten Buchladen sein gedrucktes Exemplar abgeholt, zückt er sein digitales Smartphone, um einem Freund von dem Kauf zu erzählen, twittert das Coverfoto und fotografiert vielleicht sogar noch den Rechtehinweis, um ihn an Bitlit in Vancouver zu schicken, einen Dienst, der ihn benachrichtigt, wenn es das Buch auch als E-Book zum Download gibt.
Plötzlich zu viele Bücher
Das Digitale, wie immer Sie den Begriff auch verstehen wollen, hat etwas mit dem Vertrieb zu tun. Es ist ein Treibstoff der Distribution. Wenn sich das Medium eines Contents ändert, von Papier zu E-Ink, von der CD zum Download oder vom Aktenschrank zum Cloud-Speicher, dann entstehen ein Potenzial und ein Druck zur Skalierung – und zwar im ganz großen Maßstab. Früher musste man Filme in großen, runden Dosen per Flugzeug von einem Land ins andere bringen. Heute kann man sie mit einem einzigen Klick einem Weltpublikum vorführen. Stimmt doch, oder? Ähnliches gilt auch für Bücher.
Was daraus folgt, kann man an den Berichten der American Publishers Association über die letzten paar Geschäftsjahre auf einem der größten Buchmärkte der Welt ablesen. Wie Dan Nosowitz im New York Times Magazine berichtete, sind 2013 in den USA nur gut 300.000 veröffentlichte Titel gemeldet worden, inklusive Neuauflagen.
Im Sommer startete ich mit meinem Kollegen Philip Jones bei „Bookseller“ eine Umfrage unter Branchenbeobachtern: „Wie groß ist der Markt für Self-Publishing?“ Die Schätzungen, die bei uns eingingen, reichten von 300.000 Titeln am unteren Ende der Skala bis hin zu 700.000 am oberen Ende. Verkaufszahlen von Amazon oder anderen großen Onlinehändlern sind nicht zu bekommen, also müssen wir uns mit Schätzungen begnügen. Aber Experten aus der Branche, die sich intensiv mit dem Thema befassen, gehen davon aus, dass allein in den USA die Self-Publisher mindestens noch einmal genauso viele Bücher zusätzlich herausbringen wie alle angestammten Verlage zusammen.
Wenn dieser derzeitige US-Trend die Richtung vorgibt, ist absehbar, dass es demnächst eine Leserschaft geben wird, die vom Angebot überwältigt, von der Auswahl an Lektürestoff geradezu erschlagen wird. Dass selbstverlegte Titel vielleicht größtenteils literarisch wertlos sind, spielt dabei keine Rolle, denn das allgemeine Publikum nimmt es mit literarischer Qualität ohnehin nicht so genau, sondern interessiert sich am meisten für leichte Unterhaltungsgenres. Der Self-Publishing-Sektor konzentriert sich auf diese Genre-Stoffe. Literarisches hält dort so gut wie gar nicht Einzug. Also produzieren die Indies Jahr für Jahr eine schier unglaubliche Flut an Unterhaltungstiteln.
Wie es der Londoner Verleger Michael Bhaskar auf der Frankfurter Buchmesse ausdrückte: „Es gibt einfach zu viele Bücher.“
Drei Entwicklungen bei E-Books
Viele Blicke sind heute in die Zukunft gerichtet. Dabei lassen sich auch in der Gegenwart einige interessante Zeichen erkennen, aus denen man für 2016 vielleicht einiges ablesen kann. Zum Beispiel die folgenden drei Beobachtungen, die alle aus diesem Jahr stammen:
- Obwohl E-Books in Deutschland nach wie vor einen relativ kleinen Marktanteil haben, haben die deutschen Buchhändler hartnäckig darum gekämpft, für den Verkauf DRM-freie Titel zu bekommen – damit Amazon nicht die einzige Alternative für digital-affine Leser bleibt. Die internationale Verlagsbranche hat das mit großem Interesse beobachtet, weil es mit ausschlaggebend dafür war, dass sich die wichtigsten Verlagsgrößen in Deutschland im Laufe des Jahres von hartem DRM (Digital Rights Management) verabschiedet haben und zu soften Wasserzeichen übergegangen sind. Vielleicht finden Buchhändler in anderen Ländern diese Entwicklung ja auch interessant. Auch sie fühlen sich ja womöglich von unseren Freunden in Seattle, wie wir in den USA zu Amazon sagen, aus dem digitalen Spielfeld herausgedrängt.
- Zugleich gab es jede Menge Schulterklopfen auf der Frankfurter Buchmesse, als sich die Nachricht verbreitete, dass Tolino mit seinem Anteil am digitalen Markt Amazon überholt hatte. Es schmälert natürlich den beachtlichen Erfolg von Tolino in keiner Weise, aber das Auf und Ab von E-Book-Verkäufen muss eigentlich über Wochen und Monate verfolgt werden, was bedeutet, dass Tolino und Kindle wohl öfter mal abwechselnd auf der digitalen Nummer Eins stehen.
- Und dann war da noch das Imprint Amazon Crossing, das 2015 seinen fünften Geburtstag feierte. Innerhalb dieser fünf Jahre ist das Unternehmen zum führenden US-Verlagshaus in Sachen Übersetzungen geworden. Ohne mit der Wimper zu zucken, kündigte es im Oktober an, für neue Übersetzungen und Lizenzen 10 Millionen Dollar auf den Tisch zu legen. Bei einem Live-Interview im Rahmen des Business Club der Frankfurter Buchmesse erzählte mir Amazon-Crossing-Verlegerin Sarah Jane Gunter, dass der Verlag 2016 mindestens 100 neue Titel ins Programm nehmen wird. Ihr Hauptmarkt? Übersetzungen vom Deutschen ins Englische und vom Englischen ins Deutsche.
Bewegung bei Autorenverträge und E-Book-Preisen
Auch im Großen gibt es einige bemerkenswerte Entwicklungen. In den beiden führenden Märkten sind die üblichen Autorenverträge unter starken Beschuss geraten. In den USA prescht die Authors’ Guild vor, und in Großbritannien hat die Society of Authors den Verlegern den Fehdehandschuh hingeworfen. Rechterückruf (Kontrolle über die eigene Backlist), die Höhe von Beteiligungen an digitalen Nutzungsrechten sowie Abrechnungstransparenz sind plötzlich in sämtlichen Verlagsbüros heiße Eisen. Die Vorstellung, man bräuchte Autorenhonorare nur alle sechs Monate auszuzahlen, wirkt zunehmend kurios – und die entsprechende Praxis wird sich wohl nicht mehr lange durchhalten lassen.
In den USA bahnt sich derweil zwischen den großen Verlagen und Amazon ein Titanenkampf über E-Book-Preise an. Die Majors haben es geschafft, bei der Erneuerung ihrer Verträge mit Amazon wieder das Agency-Modell durchzusetzen, ein Kommissionsmodell, bei dem sie selbst die Preise der E-Books bestimmen können. „This price was set by the publisher“ (dieser Preis wurde vom Verlag festgesetzt) ist seit Kurzem auf Seiten zu lesen, die Bücher für 16,99, 15,99 oder 14,99 US-Dollar anbieten. Preise, die beträchtlich höher liegen als 9,99 Dollar. Höher, als es Amazon selbst lieb ist. Es wächst allerdings die Sorge, dass das Interesse der Verleger, ihre Print-Preise neben solchen E-Book-Preisen attraktiver erscheinen zu lassen, Kunden letztlich davon abhalten könnte, die Bücher überhaupt noch zu lesen.
Um die Jahresmitte herum versuchten dann einige Print-Apologeten noch einmal glauben zu machen, E-Book-Verkäufe würden stagnieren – nachdem ein leider ziemlich unausgewogener Bericht zu dem Thema in der New York Times erschienen war. Michael Cader von Publishers Lunch stellte dann aber klar, dass in Wirklichkeit die Print-Verkäufe sogar stärker nachgelassen hatten als die E-Book-Verkäufe.
Das Traurigste an dieser Auseinandersetzung ist allerdings, dass es immer noch Leute gibt, die die Verlagsbranche in zwei verfeindete Lager einteilen, Digital und Print. Ganz zu schweigen von jenen, die mit soldatischer Ausdauer ihre bröckelnde Bastion verteidigen und zu glauben scheinen, irgendwann würden sich alle von Digitalprodukten abwenden und reumütig zu gedruckten Büchern zurückkehren, wie verlorene Töchter und Söhne.
Im Schatten der Content-Mauer
Wenn wir die drohend aufragende Mauer nicht als das erkennen, was sie ist, werden wir bei jedem neuen Versuch, großartige Bücher an den Mann oder die Frau zu bringen, gegen diese Mauer anrennen.
Der Schlüssel liegt am Ende vielleicht darin, dass wir unsere Leser zu Botschaftern machen müssen. Wir müssen zugeben, dass wir mit unserer Verlagsbranche in ernsthaften Schwierigkeiten stecken. Wenn wir endlich aufhören, uns selbst zu feiern und so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung, werden die Hardcore-Leseratten, die unsere besten Kunden sind, auch bereit sein, uns zu helfen.
Wir müssen unsere Leser zu den Straßenbotschaftern der Branche machen. Sie dazu anstiften, dass sie ihre Freunde und Kollegen indoktrinieren, sie dazu bringen, mehr zu lesen. Und damit das funktioniert, müssen wir die Tendenz der Leser, sich immer mehr dem Digitalen zu öffnen, unterstützen, denn dieser Trend wird sich nicht wieder umkehren. Ihn zu bekämpfen, weil viele Branchenakteure gedruckte Bücher immer noch über alles lieben, ist für einen jeden, der Mauern überwinden will, ein Albtraum.
Mit dem Rückenwind der Digitalisierung konnten wir den Output unserer Branche mühelos steigern. Wir haben nicht einmal darüber nachgedacht. Aber was wir nicht gesteigert haben, ist unser Bemühen, neue Leser zu finden. Eines braucht die weltweite Buchbranche derzeit ganz dringend, und zwar nicht gute Bücher. Sondern gute Leser, ein begeistertes Publikum – mehr überzeugte, engagierte, leidenschaftlich loyale, sendungsbewusste Leser.
Nicht vielleicht noch mehr Bücher? Nein, nicht noch mehr Bücher. Schauen Sie aus dem Fenster. Das ist die Content-Mauer. Wir haben sie gebaut. Jetzt müssen wir sie überwinden.
Aus dem Englischen von Ilja Braun. Dieser Artikel ist auch im Magazin „Das Netz – Jahresrückblick Netzpolitik 2015/16“ veröffentlicht. Das Magazin ist gedruckt, als E-Book und online erschienen.
1 Kommentar
1 Nikola Hahn am 15. Februar, 2016 um 19:30
Wahr und richtig! Vielleicht noch dazu: Wege finden, die “richtigen” Bücher mit den “richtigen” Lesern zusammenzubringen, eben NICHT nur auf Genres zu schauen …
Was sagen Sie dazu?