Das Wetteifern der Bilder: Eine Archäologie der Mem-Kultur
Haben Internet-Meme Vorläufer in der Geschichte der Kunst? Gibt es Bilder und Bildmotive, die situativ und überraschend, in wechselseitiger Reaktion aufeinander variiert und je nach Kontext in ihrer Bedeutung verändert wurden? Ging es gar darum, mit ihrer Hilfe zu kommunizieren?
So unstrittig sein dürfte, dass die von digitalen Techniken und den Social Media ermöglichte Mobilisierung der Bilder ein neues Phänomen ist, so sehr scheint doch das Bedürfnis, mit Bildern flexibel zu agieren, viel älter zu sein. Davon zeugt bereits eine der bekanntesten Maler-Anekdoten der Antike. So kam es zum Wettstreit zwischen Apelles und Protogenes, nachdem dieser jenen besuchte, aber in seinem Atelier nicht antraf. Auf einer zum Bemalen vorbereiteten Tafel zog Apelles, als Zeichen seines Besuchs, mit einem Pinsel eine dünne Linie. Nach seiner Rückkehr nahm Protogenes seinerseits einen Pinsel und setzte in einer anderen Farbe eine noch feinere Linie in die des Apelles. Als dieser nochmals bei Protogenes vorbeikam, ihn aber wieder nicht antraf, besiegte er ihn mit einer an Feinheit unüberbietbaren Linie, mit der er in einer dritten Farbe dessen Linie durchschnitt.
Dürer verbessert Mantegna, Rubens Tizian
Spielt sich der Wettstreit hier auf einer einzigen Tafel ab, so kommt es in der Geschichte der Kunst viel häufiger vor, dass ein Künstler ein Bild eines anderen aufgreift und in den eigenen Interessenraum transferiert. Albrecht Dürer übertrug etwa auf seiner Italien-Reise im Jahr 1494 Kupferstiche von Andrea Mantegna in Federzeichnungen. Dabei verlebendigte er die Figuren, differenzierte ihren Ausdruck und nutzte die größere Spontaneität, die das Zeichnen gegenüber dem Stechen erlaubt.
Auch sonst wollte sich ein Künstler oft an einem anderen messen und ihn übertreffen. Die Praxis, einen Bildentwurf im direkten Wettbewerb zu entfalten und zu verbessern, ja auf ein Vorbild zu reagieren, wird als aemulatio bezeichnet. Wenn Rubens während seiner gesamten Laufbahn – nicht nur als junger Lernender – Gemälde Tizians wiederholte und dramatisierte, beanspruchte er nicht weniger als die Nachfolge auf dem Thron der Kunst und sah sich selbst an vorderster Position innerhalb einer Fortschrittsgeschichte.
Dass die Idee der aemulatio heute keine große Rolle mehr spielt, hat mit den in der Moderne gestiegenen Originalitätsansprüchen zu tun, die wiederum zur Ausprägung des Urheberrechts geführt haben. Ihm zufolge ist es mittlerweile sogar verboten, sich auf ein erkennbares Vorbild eines Urhebers zu beziehen, der noch lebt oder weniger als 70 Jahre tot ist. Somit handelten Dürer, Rubens und zahllose andere Künstler früherer Jahrhunderte nach heutigen Standards kriminell.
Das Prinzip aemulatio ist aber auch nicht mehr so reizvoll, weil man heute ein Bild, das man variieren will, bereits fertig auf dem Desktop haben und direkt mit der Überarbeitung loslegen kann. Dagegen musste man es in der vordigitalen Zeit ganz von vorne anlegen, was Zeit und Knowhow verlangte. Somit ließ sich darauf auch nur ein, wer das Vorbild als relevant empfand und sich von dessen Aneignung und Übersetzung etwas versprach. So ernst das Vorbild als Werk genommen wurde, so sehr verfolgte man mit der Nachschöpfung ebenfalls einen Werkanspruch und hoffte, dass sie Ausgangspunkt für weitere aemulationes wurde.
Meme wollen nicht Werk, sondern Kommunikation sein
Bei Mem-Varianten hingegen wird, ähnlich wie bei Apelles und Protogenes, auf das schon vorgegebene Bild reagiert. Der Hauptakzent liegt deshalb auch darauf, es zu brechen oder gewitzt zu persiflieren. Es dient als Grundlage dafür, eine je nach Anlass wechselnde Botschaft auf schlagfertige, provokante Weise zu adressieren, und vielleicht mag sogar das Bedürfnis leitend sein, sich von der visuell-emotionalen Macht des Vorbilds zu befreien.
Anders als bei einem Artefakt, das dem Prinzip der aemulatio entspringt, wird weder zeitüberdauernde Gültigkeit angestrebt noch eine Werkabsicht verfolgt. Selbst bei aufwendigeren Spielarten begreifen Mem-Produzenten sich nicht als Urheber, sondern sind, so die israelische Kulturwissenschaftlerin Limor Shifman, Protagonisten „öffentlicher Diskurse“. Deshalb finden sie auch Fragen nach Copyright deplatziert. Metaphorisch formuliert: Ist ein Mem leicht, flüchtig, Teil einer eher mündlichen als schriftlichen Kommunikation, soll eine aemulatio – und generell jedes Werk – möglichst gewichtig, unabänderlich eingemeißelt für die Zukunft, unabhängig von bestimmten Anlässen und Adressaten sein.
Ob die Variante eines berühmten Vorbilds zu einem Internet-Mem gehört oder aber ein Werk mit Kunstanspruch ist, hängt heutzutage jedoch allein vom Kontext ab. Er kann demselben Bild Gewicht verleihen oder nehmen und entsprechend unterschiedliche Rezeptionsweisen nahelegen. Meme zirkulieren vornehmlich in den Social Media; sie lösen sich dort genauso wie andere Inhalte schnell von ihren Schöpfern und verbreiten sich so anonym wie ein Witz oder Sprichwort. Oft lassen sich die Urheber nicht einmal durch gezielte Recherchen ausfindig machen, und selbst die Orte, an denen Mem-Varianten erstmals hochgeladen wurden, sind vielfach nicht eindeutig zu identifizieren.
Auch bei den meisten Varianten von Jan Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrgehänge (1665) gelingt dies halbwegs zuverlässig fast nur, wenn kommerzielle Absichten vorliegen, eine Spielart also als Produktwerbung fungiert oder von einem Illustrator stammt, der auf seine Arbeit aufmerksam machen will.
Dorothee Golz: Varianten werden Werk
Doch beeinträchtigen markierte Autorschaft und expliziter Warenstatus auch schon den flüchtig-mündlichen Charakter von Memen. Dies gilt umso mehr, wenn man eine weitere Variante auf der Website einer renommierten Wiener Galerie wiederfindet. Urheberin dieser Variante ist Dorothee Golz, die immer wieder Werke der alten Kunstgeschichte (somit ohne Risiko einer Urheberrechtsverletzung) in heutige Verhältnisse versetzt und als C-Prints, jeweils auf fünf Exemplare limitiert, vertreibt.
Dass Golz ihre Arbeit nicht als Mem-Variante, sondern viel eher als aemulatio – und damit wirklich als Werk – begreift, ist einem Interview aus dem Jahr 2015 zu entnehmen. Sie spricht dort davon, „dass ich als zeitgenössische Künstlerin noch einmal Kontakt aufnehme mit einem Künstler, beziehungsweise mit seinem Werk, das er vor vielen Jahren vor einem anderen gesellschaftlichen Hintergrund geschaffen hat.“
Selbstbewusst und ambitioniert stellt sie fest, sie gebe „mit großem Respekt vor der Arbeit des alten Meisters“ „einen frischen, zeitgenössischen künstlerischen Input in ein altes Thema“. Dabei betrachte sie „die dargestellte Person noch mal durch seine Augen, aber interpretiere sie dann neu, aus meiner Perspektive, in der der gegenwärtige Zeitgeist und die Haltung der Gesellschaft, in der ich heute lebe, zum Ausdruck kommen. […] Letzten Endes kann man sagen, dass diese Person von zwei Künstlern interpretiert wurde. Es ist eine Art Teamwork. Wenn ich diese Arbeiten mache, sind mir die Maler sehr nahe, ich habe das Gefühl, dass mir viele ihrer Gedanken und Überlegungen bewusst werden, dass ich richtig mit ihnen kommunizieren kann.“
So sehr Golz sich als Meisterin der Einfühlung, gar als kongeniale Neuschöpferin in Szene setzt und auf diese Weise ihren Habitus als Künstlerin unter Beweis stellt, so unvorstellbar wäre, dass der Urheber einer Mem-Variante ein vergleichbares Statement abgibt, um die Rezipienten zu sorgsamer Wahrnehmung anzuhalten, Interpretationsimperative auszusprechen oder in anderer Hinsicht besondere Bedeutsamkeit für seine Arbeit zu reklamieren. Es geht ihm nicht um Strategien der Wertschöpfung, muss ein Mem doch keinen möglichst hohen Marktwert haben.
Der Erfolg einer Variante bemisst sich vielmehr an der Zahl der Reblogs. Sie überlebt nur, wenn sie schnell zirkuliert und in immer wieder andere Umgebungen gelangt, in denen sie Aufmerksamkeit erlangt. Sie hat nomadischen Charakter und braucht Heerscharen anonymer User, die sie weiter verbreiten, wohingegen ein Kunstwerk, um als erfolgreich zu gelten, möglichst fest mit einigen wenigen namentlich bekannten, am besten berühmten Akteuren verknüpft zu sein hat: einem wichtigen Sammler, der es kauft, einem bedeutenden Kritiker, der es bespricht, einem großen Kurator, der es ausstellt.
Werke im Strudel der Mem-Kultur
Die Unterschiede zwischen Memen und Werken sind so groß, dass man von einer Klassengesellschaft der Bilder sprechen könnte. Allerdings ist heute kaum noch zu verhindern, dass im Reservat der Kunst gezüchtete und gehaltene Bilder in die Wildnis der Social Media geraten, denn was einmal online ist, lässt sich fast nicht mehr kontrollieren. Auch das Motiv von Dorothee Golz hat sich in diversen Foren verbreitet und wird nun als Mem-Variante weitergepostet, wobei es sich – der Logik des Mündlichen folgend – vom Namen seiner Urheberin löst und auch sonst aller Verknüpfungen verlustig geht, mit denen es als Kunstwerk abgesichert werden sollte. Wie eine beliebige Mem-Variante taucht das Bild daher schließlich sogar unter Titeln wie „Fine Art Fun“ oder „Art Parody“ auf.
Umso schaler mutet die Selbstbeschreibung der Künstlerin an, und man kann sich ausmalen, wie irritiert erst ein Sammler sein muss, der das von ihm erworbene Werk in solch profanem Umfeld wiederfindet.
Variationen am eigenen Werk
Trotz allen Werkkults gibt es aber auch innerhalb der Kunst Ansätze, die Ähnlichkeit zur Logik von Memen besitzen. Dabei fällt vor allem ein Phänomen auf, bei dem Künstler sich auf ihre eigenen Werke beziehen, diese also wiederholt neu aufgreifen, so als stünden sie unter dem Bann einer Auto-Viralität, seien also von sich selbst angestachelt. Verbreitet ist dies vor allem in der Klassischen Moderne: in einer Zeit, zu der das Urheberrecht der Auseinandersetzung mit anderen Künstlern schon enge Grenzen setzte. Sich selbst zu variieren, war dann der legale Weg, auf Vorbilder zu reagieren. Gegenüber der aemulatio tritt der Aspekt des Wettbewerbs dabei in den Hintergrund; vielmehr besitzt die Weiterführung eigener Vorbilder eine pragmatische Dimension: Sie fällt leichter als die Aneignung fremder Sujets oder Stile, was auch die kunsttypische Werkschwere mindert und sogar spielerisch-experimentelle Formen erlaubt.
Manche Künstler, etwa Giorgio de Chirico, haben einige ihrer Bilder vielfach variiert, sie vielleicht sogar – darüber ist in der Kunstwissenschaft das letzte Wort noch nicht gesprochen – bewusst ins Absurde gezogen, andere wiederholten einzelne Sujets, um sie in jeweils neuer Weise miteinander zu kombinieren. Hier ist vor allem an René Magritte zu denken. In seinen Gemälden hat er immer auf dieselben Versatzstücke – wie auf feste Redewendungen – zurückgegriffen, Motive wie Äpfel, Hüte, Wolkenhimmel also wieder und wieder verwendet.
Wie nah er damit der Praxis von Internet-Memen kam, zeigt sich daran, dass man mittlerweile in den Social Media, vor allem bei Tumblr und Pinterest, auf zahlreiche weitere Varianten trifft, die aber nicht von Magritte, sondern von heutigen Usern stammen. Sie setzen fort, was der Künstler selbst initiiert hat, wobei sich manchmal sogar kaum entscheiden lässt, welche Kombination von Magritte, welche von einem Mem-Produzenten stammt.
Die Medientheoretikerin und Bloggerin Annekathrin Kohout hebt hervor, dass Magrittes Bilder „mit einfachen Motiven“ operieren, die „man gut nachstellen kann“ und die „sich zum Umcodieren eignen“; sie würden gerade nicht „werkschwer“ wirken, weshalb man sie „desto ungehemmter“ – ohne Schwellen überwinden zu müssen – übernehmen könne. Damit erklärt sie die neue Popularität Magrittes, stellt aber zugleich heraus, dass er selbst „bereits aus den eigenen Motiven Mash-Ups, wenn man möchte auch frühe Meme gemacht hat.“
Zu dieser Diagnose passt auch, dass Magritte sich nicht nur auf eigene, sondern genauso auf bekannte Bilder der Kunstgeschichte rückbezog, die er variierte, dabei jedoch viel eher als gemäß einer Idee von aemulatio in Ähnlichkeit zu Praktiken der heutigen Mem-Kultur verfremdete. Bei zwei Madame-Récamier-Bildern – einmal nach Jacques-Louis David, einmal nach François Gerard – imaginiert er etwa, die Zeit sei nicht stehen geblieben, die einst junge Protagonistin mittlerweile (rund 150 Jahre später) also gestorben und in einem Sarg. Genauso lässt sich aber zu fast jedem Internet-Mem eine Variante finden, bei der die Protagonisten bereits gestorben und skelettiert sind.
Das Beispiel von Magritte zeigt, wie gut die Produzenten von Memen darin sind, ihre Vorläufer selbst aufzuspüren. Zugleich tragen sie damit dazu bei, den Blick auf die Geschichte der Kunst und der Bilder zu verändern. Was sonst vielleicht nur ein Schattendasein führte und die Kunstwissenschaft sogar verlegen machte, erhält auf einmal Beachtung und entfaltet sogar neue Wirkkräfte. Ein flexibler und aktiver Umgang mit Bildern, ihre fortwährende Anpassung und Verwandlung, schon seit Apelles und Protogenes erstrebt, wird nach und nach zur Selbstverständlichkeit.
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