Das Netflix-Prinzip

Screenshot: Netflix
Anfang der 2000er Jahre hatte der Drehbuchautor David Simon eine fixe Idee: „Ein Roman im Fernsehformat“, das erzählte der ehemalige Polizeireporter später einem Freund, dem amerikanischen Schriftsteller George Pelecanos. Jede Folge würde wie das Kapitel eines Buches funktionieren. Es sollte um die gesellschaftlichen Faktoren der Drogenkriminalität in den US-Metropolen gehen. Der Bezahlsender HBO, der gerade mit den Serien „Sex and the City“ und „The Sopranos“ für Aufsehen gesorgt hatte, kaufte die Idee für eine Pilotfolge. Der Rest ist Geschichte. „The Wire“, so der Name von David Simons Projekt, revolutionierte das Genre der Fernsehserie. Die einzelnen Episoden waren nicht mehr in sich geschlossen, sondern bildeten einen übergreifenden Handlungsbogen, der eine ganze Staffel umfasste.
Die Einschaltquoten waren jedoch katastrophal. Wenigstens sorgten die positiven Kritiken und die Mund-zu-Mund-Propaganda dafür, dass die DVDs reißenden Absatz fanden. Die Fans zogen es vor, sich die Staffeln am Stück statt Woche für Woche anzusehen – was möglicherweise der komplexen Erzählstruktur geschuldet war. „The Wire“ entpuppte sich als Schläfer. Über zehn Jahre später hat David Simons Idee der „Fernsehserie als Roman“ unsere Sehgewohnheiten nachhaltig verändert. Man könnte ihn auch als Wegbereiter eines Trends sehen, den Streamingdienste wie Netflix und Amazon in jüngster Zeit konsequent weitergedacht haben.
Eine repräsentative US-Studie im Frühjahr 2015 ergab, dass Netflix zu Hochzeiten über ein Drittel des gesamten Datenverkehrs in den USA erzeugt. Die Abozahlen werden im kommenden Jahr vermutlich weltweit die 70-Millionen-Grenzen überschreiten. Grund dafür sind nicht die Inhalte, die beispielsweise in Deutschland auch über Video-on-Demand-Plattformen wie iTunes oder Lovefilm zu beziehen sind, sondern Eigenproduktionen wie „House of Cards“, „Orange is the New Black“ oder „Daredevil“. Diese werden weltweit exklusiv auf Netflix veröffentlicht – und zwar en bloc. Im Fall von „House of Cards“ bedeutet das zum Beispiel: 13 neue Folgen auf einen Streich.
Rührend anachronistisch
Netflix hat mit seinen Produktionen die nächste Stufe in der Evolution der Fernsehserie eingeläutet. Als das Unternehmen vor drei Jahren ankündigte, als direkter Konkurrent gegen die Bezahlsender HBO, Showtime (Californication, Homeland, Master of Sex) und FX Network (The Shield, Sons of Anarchy, The Americans) sowie den Privatsender AMC (Mad Men, Breaking Bad, The Walking Dead) anzutreten, waren Serienfans noch an das wöchentliche Sendeschema der Networks gebunden. Abzulesen war das unter anderem an den illegalen Downloadportalen, auf denen sich noch in der Nacht der Erstausstrahlung die Datenschwärme der neuesten Episoden massiv erhöhten. Wer es eilig hatte oder am nächsten Tag mitreden wollte, folgte dem wöchentlichen Turnus. Diejenigen, die sich gedulden und bis zum Ende der Staffel warten konnten (oder erst spät auf den neuesten Serienhit aufmerksam geworden waren), fielen einem anderen Phänomen anheim: dem sogenannten Binge Watching.
Eine Staffel in zwei Nächten, zwei Staffeln an einem Wochenende. Bei manchen Fans nahm die Serienabhängigkeit exzessive Züge an, und sie war wie bei jeder Sucht vom Angebot gesteuert. In den Nuller-Jahren war die Zahl von neuen drama series, wie es bei den Emmy-Verleihungen offiziell heißt (also allen Serien jenseits der klassischen police procedurals oder Sitcom-Formate), noch überschaubar. Der Output beschränkte sich auf die Bezahlkanäle und einige Networks wie Fox und NBC; zwischen den Staffeln flauten die Nutzerzahlen ab. Doch die viel beschworene goldene Ära der Fernsehserie gehört seit 2012, als Netflix ankündigte, mit einer neuen digitalen Veröffentlichungsoffensive in den Serienmarkt einzusteigen, wohl endgültig der Vergangenheit an.
Heute klingt die Vorstellung, über Monate auf das Finale einer Staffel zu warten, rührend anachronistisch. Obwohl ein Fernseh-Event wie die fünfte Staffel von „Game of Thrones“ noch immer seriell, also wöchentlich, ausgestrahlt wird, hat sich durch das stetig wachsende Programm von Netflix und konkurrierenden Streaminganbietern wie Amazon, Yahoo und Microsoft das Netflix-Prinzip längst auf breiter Front durchgesetzt. Der Kunde ist König. Der Anspruch auf ständige Verfügbarkeit digitaler Inhalte, nicht zuletzt verstärkt durch das schier unendliche Angebot von illegalen Streaming- und Downloadplattformen in den vergangenen zehn Jahren, hat auch die Erwartungshaltung von Serienfans verändert. „Wir übergeben den Usern die Kontrolle über ihre eigene Seherfahrung“, erklärte Netflix-Chef Jonathan Friedland vor drei Jahren seine Strategie. Der Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Zuschauer hat sich verschärft.
Die Gefahr der Verflachung
Nutznießer sind die Zuschauer, die heute aus einem umfangreichen Programm qualitativ hochwertiger Serien auswählen können. (Ignorieren wir an dieser Stelle einmal die Preise für die diversen Abo-Angebote, denn natürlich werden die Lieblingsserien nicht alle über dieselbe Plattform vertrieben. Jeder Anbieter lässt sich seine Exklusivität etwas kosten.) Noch hält die Hochstimmung an, die künstlerischen Freiheiten des Bezahlfernsehens locken inzwischen selbst Hollywood-Regisseure wie Steven Spielberg und Woody Allen. Gleichzeitig ist nicht zu übersehen, dass die neue Freiheit des Konsumenten auch Einschränkungen mit sich bringt.
Ein Blick auf die Produktionsbedingungen von Serien bei Netflix und Amazon – 15 Jahre nach David Simons Idee, das Format der Fernsehserie zu revolutionieren – ist eher ernüchternd. Die Qualität ist unverändert hoch. Hin und wieder werden sogar noch Serien produziert, die es unter rein ökonomischen Gesichtspunkten eigentlich nicht geben dürfte. Eines der besten Beispiele ist Simons aktuelle Miniserie „Show me a Hero“ über amerikanische Lokalpolitik in den 1980er-Jahren. Doch Netflix und Amazon stehen für zwei neue Produktionsmodelle, in denen bei der Entwicklung neuer Stoffe nichts mehr dem Zufall überlassen wird.
Aus ökonomischer Sicht ist der Wunsch, die finanziellen Risiken niedrig zu halten, natürlich verständlich. Es zeichnet sich jedoch die Gefahr ab, dass der Servicegedanke, das Programmangebot auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zuzuschneiden (dem Publikum also genau die Serien zu bieten, die es erwartet), auf lange Sicht zu einem gleichförmigen Gesamtangebot ohne Überraschungen oder Innovationen führt. Eine ähnliche Entwicklung ist seit knapp 15 Jahren schon in der US-Filmindustrie mit ihren ewigen Franchises und Superheldenverfilmungen zu beobachten.
Als Netflix vor drei Jahren die 100-Millionen-Dollar teure, erste Staffel von „House of Cards“ veröffentlichte, hatte das Unternehmen die Risiken im Vorfeld sorgfältig abgewogen und konnte seine Entscheidung mit empirischen Daten unterfüttern. Die Argumente fanden sich in den Nutzerzahlen ihres Video-on-Demand-Verleihangebots: Diese hätten ergeben, so erklärte Friedland damals, dass Netflix-Abonnenten Fans der britischen Politserie „House of Cards“ wären, außerdem stünden Filme von David Fincher und mit Kevin Spacey hoch im Kurs. Die Rechnung war einfach und ging auf: Das US-Remake von Regisseur David Fincher mit Kevin Spacey in der Hauptrolle wurde ein Quotenhit.
Basisdemokratisches Fernsehen
Inzwischen gehört Data Mining zum Kerngeschäft von Netflix. Kein Konzern in der US-amerikanischen Unterhaltungsbranche besitzt einen so umfassenden Überblick über das Kundenverhalten wie der Marktführer unter den Streamingdiensten. Netflix weiß, wann wie viele Zuschauer auf welchen Endgeräten die Pausetaste betätigen, welche Szene sie vor- oder zurückspulen und wann eine Folge abgeschaltet wird. Wirft man alle diese Daten zusammen, ergibt sich nicht nur ein präzises Bild von den Sehgewohnheiten der Zuschauer, sondern auch von deren Vorlieben.
Extrapoliert man diese Daten wiederum mit anderen Nutzer-Informationen wie Forumsbeiträgen, Social-Media-Kommentaren und Empfehlungen, lassen sich perfekt auf die Zuschauererwartung abgestimmte Inhalte produzieren. Auf der Strecke blieben hier zwangsläufig neue Impulse, für die die goldene Ära der Fernsehserie einst gefeiert wurde. Nun sind Algorithmen-basierte Schlüssel natürlich kein Erfolgsgarant – und ebenso bleibt immer noch Platz für kuriose Überraschungserfolge wie die Animationsserie „Bojack Horseman“. Aber die Datenanalysen des Nutzerverhaltens haben einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Die Fernsehserie ist im Big-Data-Zeitalter ein feinkalibriertes Unterhaltungsprodukt.
Eine Alternative zum Data Mining erprobt seit etwa zwei Jahren Amazon. Kundenempfehlungen gehören seit jeher zum Geschäftsmodell des Online-Händlers, doch mit seinen Amazon Studios geht Gründer Jeff Bezos noch einen Schritt weiter – beziehungsweise auf den Kunden zu. Das Geschäftskonzept beruht auf der Idee, dass Autoren Skripts einreichen (im ersten Jahr waren es 2.700 Ideen für Serien), aus denen ein Gremium eine Auswahl für die Produktion von bis zu zehn Pilotfolgen pro Jahr trifft. Abhängig von den Zuschauerzahlen gibt Amazon nach der Ausstrahlung des Piloten die komplette Staffel der Serie in Auftrag. Dieses basisdemokratische Modell überlässt die Kontrolle über das Angebot zu einem gewissen Grad den Zuschauern, die sich ihr Wunschprogramm zusammenstellen können.
Allerdings wirkt sich dieses Produktionsmodell zwangsläufig auf die Dramaturgie aus. Der Unterschied zum Netflix-Konzept liegt auf der Hand: Da eine Netflix-Serie nicht erst um die Gunst des Publikums buhlen muss, können die Produzenten stärker auf die Aufmerksamkeit und Geduld der Zuschauer vertrauen. Die Handlung kann sich langsam entfalten, es wird viel Wert auf Atmosphäre gelegt. Da die Staffeln meist am Stück gesehen werden, greift hier wieder David Simons Idee der „Fernsehserie als Roman“. Die einzelnen Episoden sind ein strukturierendes Element und dienen nicht primär dem Spannungsaufbau. Das Publikum muss also nicht bei der Stange gehalten werden, die Erzählung kann einen natürlichen Fluss entwickeln. (Diese Logik gilt in erster Linie für Drama-Serien wie „Daredevil“ oder „Bloodline“.)
Amazon-Serien funktionieren ganz anders. Die Pilotfolgen sind darauf ausgelegt, das Publikum schnell zu fesseln und die Konflikte und Personenkonstellationen verständlich zu umreißen, um die Chancen auf grünes Licht vom Studio zu erhöhen. Gelingt es dem Piloten nicht, die zentralen plot points innerhalb der ersten Folge zu vermitteln, verliert das Publikum möglicherweise das Interesse an einer ganzen Staffel. Diese erhöhte Kalkulierbarkeit von Inhalten ist ein weiterer Grund, warum die Fernsehhistorikerin Deborah Jaramillo von der Universität Boston das Ende der analogen Fernsehära am Beispiel der Serien festmacht. Anbieter wie Netflix, Amazon und Yahoo haben Wege gefunden, ihr Publikum gezielter zu erreichen.
Eine repräsentative Studie der Consumer Electronics Association Anfang 2015 ergab, dass sich inzwischen 71 Prozent aller Amerikaner regelmäßig Streaming-Inhalte ansehen – ob über Netflix, Youtube oder die Online-Portale der großen Sender. Das wachsende Internet-Angebot hat die Optionen des Publikums, wann und wie sie ihr Fernsehprogramm nutzen, maßgeblich erweitert. Netflix und Amazon sind nur die bekanntesten Beispiele dafür, wie die technischen Rahmenbedingungen der digitalen Distribution auch auf die Inhalte Einfluss nehmen. Ob der nächste Serienhit nur eine Frage des richtigen Algorithmus ist oder ob das Zuschauer-Veto bei Amazon-Serien langfristig das Qualitätsniveau der Eigenproduktionen mindern wird, lässt sich derzeit schwer prognostizieren. Wie der anhaltende Boom aber zeigt, scheint die goldene Ära der Fernsehserie zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht noch etwas anzudauern.
Dieser Artikel ist auch im Magazin „Das Netz – Jahresrückblick Netzpolitik 2015/16“ veröffentlicht. Das Magazin ist gedruckt, als E-Book und online erschienen.
2 Kommentare
1 Sven am 4. Januar, 2016 um 09:47
Um zu wissen, dass David Simon nicht der “Erfinder” ist, muss man nur ein paar Jahre zurück zu Buffy gehen. Twin Peaks ist noch mal älter.
2 Busche am 4. Januar, 2016 um 22:05
Was “Twin Peaks” angeht, stimmt das natürlich. Allerdings ist Lynch noch mal eine ganz andere Geschichte, außerdem war er 1990 noch ein Einzelphänomen. Wenn überhaupt, sollte man Stephen J. Cannell mit “Wiseguy” (1987) als Erfinder der Arc-Erzählung nennen. “Buffy” (so auch spätere Whedon-Serien wie “Dollhouse” und “Firefly”) hatte noch eine stärkere Episidenstruktur: Es gab zwar eine übergreifende Geschichet, aber trotzdem in sich geschlossene Folgen. Das hat David Simon mit “The Wire” vollkommen aufgehoben.
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