Das Gemeinsame in der Musik: Von „The Grateful Dead“ zu Creative Commons
Ein musikalisches Ensemble stellt jene soziale Formation dar, bei der sich das Gemeinsame auf denkbar schönste Weise Ausdruck verschafft. Geredet werden muss nicht, im Optimalfall genügen kleine Gesten – ein Akzent mit dem Drumstick oder nur ein Kopfnicken – um etwas Neues, Unerhörtes zu erzeugen. Musik, insbesondere die populäre, wird allerdings erst dann zum wirklich sozialen Akt, wenn etwas Wichtiges dazukommt: das beteiligte Publikum. Erst seine Interaktion mit der Musik, sein Ausfüllen der Zeichen mit interpretatorischer Neugier und Bewegungsenergie verwandelt das Programm einer Band in eine Form der physischen und psychischen Programmierung: Man träumt, zappelt und pfeift zum Takt der Musik.
Als Publikum ist man – ob man es will oder nicht – immer schon stiller Teilhaber und Mitautor von Musik. Diese will, muss geteilt werden, ansonsten bleibt sie blutleer, eine bloße Anordnung von Noten auf Papier oder einem Computerscreen. Die Ansicht, erst die Möglichkeiten des Filesharings im Internet habe eine Kultur musikalischen Tauschens etabliert, kann allerdings getrost ins Reich der Legenden verwiesen werden. Musik war immer schon ein Fest des Teilens, Leihens und Anreicherns, bevor diese Idee durch das Urheberrecht reguliert wurde.
Mittelalterliche Troubadoure zogen über die Marktplätze, um alte Sagen und aktuelle Ereignisse zu übermitteln, in common knowledge zu verwandeln, das sich über die Weiterbearbeitung durch andere ständig transformierte. Nichts beschränkte diese oral vermittelte Musikkultur, keine Aufführungs- oder Aufnahmerechte grenzten die Spielräume dieser sozialen Praxis ein. Selbst ein höfischer, an die Launen seines Mäzens gebundener Komponist war vermutlich künstlerisch wesentlich freier als jene willenlosen Büttel der Musikindustrie, die heutzutage als Instant-Stars in Casting-Shows geboren und in Reality-Dokus umständlich resozialisiert werden müssen.
The Grateful Dead: Unbegrenzt daddeln
Wenngleich die grundsätzlichen Parameter der Popkulturindustrie, die auf den Absatz physischer Trägermedien zielt, bereits zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts gebildet waren, gab es innerhalb ihrer Verwertungslogik immer wieder Experimente, wie man Musik als gemeinschaftlich gepflegte Angelegenheit bewahren, eben: Volksmusik im Wortsinne machen könnte. Paradigmatisch für diesen Versuch standen die Lieblinge der drogenumnebelten Gegenkultur im San Francisco der 1960er Jahre: The Grateful Dead.
Rein musikästhetisch sind The Grateful Dead womöglich vor allem deshalb interessant, weil sie sich jeder Festlegung verweigern, sei es auf Genres, vorgegebene Zeitintervalle oder die Dramaturgien professioneller Bühnenshows. Schöpfend aus dem schier unendlichen Repertoire US-amerikanischer Volksmusiken wie Folk, Jazz, Blues, Country oder Bluegrass, gelingt ihnen eine mäandernde, eigentümlich vor sich hin tastende Musik. Ähnlich wie der an oraler Musiktradierung geschulte Bob Dylan – mit dem sie 1989 ein gemeinsames Album aufnahmen – übte sich die Band in ständig wechselnden, fast sprunghaft wirkenden Arrangements und der absoluten Freiheit zu ausufernd herumdaddelnder Improvisation.
Leadgitarrist Jerry Garcia erklärte diesen Umstand gerne mit der „pathologisch anti-autoritären“ Haltung der Gruppe, die allzu gerne auf LSD-Trips als Schmiermittel der Kreativität zurückgriff. Auf Setlists wurde daher konsequent verzichtet: „Wir konnten uns nie entscheiden, was wir spielen sollten, deshalb war jedes Konzert absolut unvorhersehbar.“ Häufig kokettierte Garcia damit, dass er schlicht keine Lust dazu habe, eine Phrase zweimal auf identische Weise auf der Gitarre zu spielen.
Live kommt vor Album
Die offiziellen Studioaufnahmen von The Grateful Dead sind, bei allem Respekt für ihr musikalisches Erbe, im Grunde irrelevant. The Grateful Dead stehen, wie wohl keine andere Band in der Popkultur zuvor, für „unverfälschte“ Live-Musik. In seinen Liner Notes zur Neuauflage des 69er-Albums „Live/Dead“ – das als abgeschlossenes Produkt unweigerlich wie ein Widerspruch zur fluiden musikalischen Praxis wirkt – schreibt der amerikanische Musikjournalist und Gitarrist Lenny Kaye:
Vor dem Aufkommen von Studioaufnahmen gab es nur Live. Angesichts der technologischen Verengungen und zeitlicher Vorgaben ging es dann letztlich nur noch darum, einen Song in die Begrenzungen eines Hörerlebnisses zu pressen, das außerhalb des Moments von dessen musikalischer Entstehung lag – eine Entwicklung, die uns zur Drei-Minuten-Hit-Single, der Radio-Playlist und dem allzu gemeinsamen Nenner der Pop-Charts gebracht hat.
The Grateful Dead sind ein popmusikalischer Sonderfall, weil bei ihnen Mitschnitte von Konzerten wichtiger sind als der industriell gehegte und über Jahrzehnte verwertbare Backkatalog. Die Band konnte es sich sogar leisten, zwischen 1980 und 1987 kein einziges Studioalbum zu veröffentlichen. Ihrer Popularität tat dies jedoch keinen Abbruch, im Gegenteil: In dieser Dekade wuchs die Zahl von „Deadheads“ stetig, die wie ein nomadischer Treck durch die USA zogen und ihre gesamte Lebensplanung auf den Tourzyklus der Band ausrichteten. Schätzungen gehen davon aus, dass The Grateful Dead im Laufe ihrer 50-jährigen Karriere etwa 3.000 Konzerte gespielt haben, die oftmals über vier Stunden dauerten.
Im Gegensatz zu vielen anderen Bands, die Bootlegs – also illegale Mitschnitte von Auftritten – mit allen juristischen Mitteln zu verfolgen suchten, haben The Grateful Dead von Beginn an einen anderen Weg beschritten. So erlaubten sie ausdrücklich, dass die Fans Konzerte für ihre eigenen Bedürfnisse mitschneiden und selbst ihre Mikrofone aufstellen durften. Zu diesem Zweck wurden spezielle Bereiche hinter dem Soundboard abgetrennt (taping areas). Aus der unüberschaubaren Zahl dieser Aufnahmen erwuchs eine reichhaltige Tauschkultur, viele Aufnahmen der Besucher wurden sogar auf Vinyl oder CD veröffentlicht. Die Band erlaubte das, wenn kein Gewinn damit erzielt werden sollte.
Internet-Band vor dem Internet
Obwohl sie somit bewusst Kontrolle abgaben, gehörten The Grateful Dead über viele Jahre zu den bestverdienenden Bands in den USA. Im Juli 2015, nach 50-jährigem Bestehen, hat sich die Band mit drei Konzerten in Chicago nun offiziell von ihren Fans verabschiedet. Ein Kommentator des Senders NBC nannte Grateful Dead wegen ihrer Förderung des Sharing-Gedankens eine „Internet-Band vor dem Internet“.
Wie die Wikipedia erläutert, hatte
keines der Bandmitglieder (…) eine besondere Affinität zur Computer- und Netzwerktechnik. Trotzdem ist die Band in mehrfacher Hinsicht Bestandteil der Entwicklung des Internets. Das liegt vor allem an den Deadheads, die oftmals aus Ingenieursstudiengängen kamen. Auch die Nähe zu den Entwicklungsstätten des Silicon Valley trug zur Nutzung neuer Techniken bei. Im einflussreichen früheren Mailboxsystem The WELL gab es schon bald ein eigenes Diskussionsforum, die Grateful Dead Conference. Eine der ersten Newsgroups des Usenet war rec.music.gdead. (…)
Mit dem Aufkommen des MP3-Formats und der ersten Tauschbörsen war schlagartig die Digitalisierung und weltweite Verbreitung ungeheurer Mengen an Musik möglich. Grateful Dead reagierte darauf als erste mit einer Geschäftspolitik, die ihre mitschneidefreundliche Haltung ins Internet erweiterte und zum Vorbild für andere Bands wurde. In der Folge entstanden mehrere Websites, die sich um die Verbreitung der Musik kümmerten. Über Jahre hinweg gab es Überlegungen der Band, die eigenen Konzertmitschnitte über das Internet zu verkaufen. Die Streitereien erledigten sich mit dem Ende der Dotcom-Blase. 2004 hat die Band als Veröffentlichungsort Apples iTunes Music Service und eine eigene Internetpräsenz gewählt.
Fluides Schaffen
Ob nun als innovatives Geschäftsmodell angelegt oder schlicht dem kommunitären Zeitgeist geschuldet: The Grateful Dead haben maßgeblich dazu beigetragen, unsere Vorstellungen von musikalischen Distributionswegen auf das digitale Kopierzeitalter vorzubereiten, das ein reichhaltiges Ökosystem von Download-, Streaming- und Sharingmöglichkeiten herausgebildet hat.
Den kulturellen Bedeutungswandel, der damit für die Nutzerinnen und Nutzer verbunden war, beschreibt der Kulturwissenschaftler Mark Terkessidis in seinem Buch „Kollaboration“ folgendermaßen:
Musikhören ist zu einer Art alltäglichem Fluss geworden, wobei die linearen Zeitvorstellungen wie auch die Ideen von neu und alt durcheinandergewirbelt werden, weil auch bislang unverfügbare Aufnahmen aus früheren Zeiten zugänglich sind. Zudem wird das Material oftmals in die elektronische Produktion neuer Musik einbezogen. Es geht also nicht mehr um ein Objekt, sondern um einen Prozess, der das künstlerische Schaffen in eine potenziell unendliche Zahl von Metamorphosen verwickelt.
Fragen, die die GEMA stellt
Wie dieser ästhetische Prozess häufig mit rechtlichen Fragestellungen und Regulierungsversuchen in Berührung kommt, mag eine kleine Anekdote verdeutlichen. Wir blenden zurück ins Berlin des Jahres 2006: Meine kleine Amateurband, die gerade ihre ersten Aufnahmen in einem Bonner Homerecording-Studio beendet hat, sieht sich erstmals mit der Frage konfrontiert, wie man die eigenen Songs veröffentlicht. Eine Plattenfirma und den entsprechenden Apparat dahinter haben wir nicht. Sicher, für eine akzeptable Soundqualität braucht es keine teuren Aufnahmeorte mehr; die entsprechende Hardware können wir leihen, uns das entsprechende Know-how aneignen. Aber was dann? Wie können wir nach draußen treten und Resonanz erzeugen?
Seit etwa drei Jahren gibt es zwar die Social-Media-Plattform Myspace, die das Musikstreaming bekannt und vor allem leicht handhabbar gemacht hat. Aber ein Blick auf die Kommentare zeigte uns schnell, das sie längst zu einer Orgie des Selbstabfeierns verkommen war, wirkliche Interaktion suchten wir vergebens. Dazu kam der Verlust an musikalischer Aura durch die standardisierte Benutzeroberfläche: Für erklärte Neo-Haptiker wie uns kam es immer noch darauf an, ein physisches Objekt mit der entsprechenden Anmutung in den Händen zu halten.
Die vom Masterboard gezogenen Dateien kommen also ins Presswerk. Und damit beginnen die Probleme. Denn das Presswerk benötigt eine GEMA-Freigabe, um die 500 bestellten Exemplare unseres hoffnungsvollen Debüts ausliefern zu dürfen. Ein entsprechendes Formular wird uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Es soll offensichtlich dazu dienen, den räuberischen Missbrauch unserer Musik zu verhindern. Zur Beweiserleichterung für die GEMA-Vermutung dienen Fragen wie: Wer ist der Komponist des Stückes X? Wer ist der Texter des Stückes Y?
Fragen, die uns komplett ratlos machen. Songwriting im eigentlichen Sinne gibt es bei uns nicht. Die Stücke entstehen aus der Improvisation, gänzlich ungeplant oder gar komponiert, bis sie sich in einer bestimmten Form kristallisieren. Auch die Texte, zu deren Güteklasse es sehr kontroverse Meinungen gibt, sind vollständig aus dem Moment heraus geboren, zumeist als Kalauer im Proberaum. Wenn einer dafür verantwortlich zeichnen müsste, dann eben alle, also die Band als Ganzes.
Fehlentscheidung: GEMA-frei, aber nicht freigegeben
Aber wollen wir überhaupt in dieses System der Aufseher hinein, die bei Konzerten gleichsam mit hochgestelltem Kragen über das musikalische Reinheitsgebot wachen? Nein. Wir entschließen uns für den denkbar einfachsten Weg und versichern gegenüber der GEMA leutselig, die Pressung geschehe zu rein privaten Zwecken. Was sogar fast stimmt. Haben wir doch als potenzielle Abnehmer der CD vor allem den Freundeskreis und notorisch schwer zu beschenkende Verwandte vor Augen.
Wir verweigern also eine rechtsgeschäftliche Bindung mit der Verwertungsgesellschaft und sind von nun an Urheber „GEMA-freier Musik“. Die GEMA wiederum scheint aufgrund dieser Tatsache eingeschnappt zu sein. Jedenfalls bleibt unser Fax, das als einziger Kommunikationsweg zu den grauen Herren zugelassen ist, auf ewig unbeantwortet. Unter Aufbietung sämtlicher Content-Management-Skills bauen wir noch eine rudimentäre Website, auf der alle Songs kostenlos herunterzuladen sind. Die Lieder gehören ja uns, kein Mittelsmann in Gestalt eines Musikverlags oder Tonträgerherstellers ist involviert.
Erst allmählich dämmert uns, dass wir mit der Entscheidung, die Musik online zu verschenken, einen folgenschweren Fehler gemacht haben. Denn die im Netz zugänglich gemachten MP3-Dateien kommen ohne jeden Hinweis auf den rechtlichen Status der Musik aus. Damit fallen sie automatisch unter sämtliche Nutzungsvorbehalte, die das Urheberrecht so bietet. Potenziell Interessierte müssen davon ausgehen, dass sie die Musikstücke zwar im Rahmen der Privatkopie herunterladen und weitergeben dürfen, nicht aber sie auf Blogs und sozialen Netzwerken hochladen oder gar eine Coverversion veröffentlichen dürfen. Gegen all das hätten wir jedoch nichts einzuwenden gehabt.
Wir haben uns also in eine Zwickmühle begeben: Für die Musik bekommen wir – mangels Wahrnehmungsvertrag – keine Tantiemen, andererseits ist aber auch ihre effektive Verbreitung und Weiternutzung rechtlich eingeschränkt. In der Band, in der sich kein einziger Jurist befindet, beginnt daher Ende der Nullerjahre eine Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen von freier Musik. „Frei“ verstehen wir im doppelten Sinne: kostenfrei und frei für Bearbeitungen.
Barlow, Messias des Cyberspace
Das Konzept der „Jedermann-Lizenzen“ von Creative Commons, das für uns das naheliegendste Mittel der Wahl war, wäre nicht entstanden ohne die Open-Source-Bewegung und die Stichwortgeber der neuen Freiheiten im Internet. Zu ihnen gehört auch John Perry Barlow, Songtexter von The Grateful Dead. Bekannt geworden ist der ehemalige Viehzüchter und Mitbegründer der Electronic Frontier Foundation allerdings durch seine „Unabhängkeitserklärung des Cyperspace“, die er im Februar 1996 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos präsentierte, nur wenige Monate nach dem Tod des Grateful-Dead-Masterminds Jerry Garcia.
Barlow reagierte damit auf den Telecommunications Act der Regierung vom selben Jahr, das als eines der ersten Bundesgesetze auch das Internet regulieren sollte. In dem Manifest steigert sich Barlow in einen messianischen Ton, der zuweilen an die wirtschaftslibertäre Prosa von Autoren wie Ayn Rand erinnert, und formuliert ein freiheitliches Verbreitungsprinzip für das Internet:
In unserer Welt darf alles, was der menschliche Geist erschafft, kostenfrei unendlich reproduziert und distribuiert werden.
Der Satz klingt aus heutiger Sicht immer noch radikal, selbst in den Programmen der Piraten werden die Verdienstinteressen von professionellen Kreativen berücksichtigt. In seinem zwei Jahre zuvor erschienenen Text „Wein ohne Flaschen“ umrundet Barlow die Grundzüge dessen, was sich Mitte der neunziger Jahre schon andeutet: eine neue Informations-Ökonomie, die von den alten Schutzansprüchen auf physische Trägermedien Abstand nehmen muss. Die Beweglichkeit von Informationen im Netz müsse, so Barlow, immer gewährleistet sein. Jegliche digitalen Äußerungsformen seien als „flüchtige Ladung“ anzusehen, die das Gefährt von Urheberrecht und Patentgesetzen nicht mehr tragen könne.
Dein und Mein
Mein persönliches Umfeld war für diesen revolutionären Vorstoß noch nicht weit genug. Dabei überraschte mich, wie stark die Vorstellung von musikalischem Eigentum war, welche doch dem gesunden Menschenverstand und der Alltagserfahrung komplett widerspricht. Wie kann man etwas besitzen, das sich erst in einer gemeinsamen Performance von Darbietenden und Zuhörenden materialisiert? Wie kann man etwas besitzen, das sich eines reichhaltigen Repertoires von Strukturen (Tonfolgen, Harmonien, Rhythmen) bedient, die durch andere entwickelt wurden und den Rahmen der eigenen Schöpfung zumindest vorgeben? Von „geistigem Diebstahl“ im Zusammenhang mit Musik zu sprechen, macht keinen Sinn, wenn man sich die musikalische Evolution in der westlichen Hemisphäre vor Augen führt.
Bevor der Tatbestand des Plagiats juristisch festgeschrieben wurde, war es etwa für die höfischen Komponisten des Barock selbstverständlich, ganze Tonfolgen aus fremden Arbeiten zu übernehmen und in Variationen zu überführen. Und wäre nicht die gesamte heutige Popmusik inexistent, hätte sie nicht massiv auf Entlehnungen und Anlehnungen gesetzt? Keine Rockmusik ohne den britischen Re-Import des afroamerikanischen Delta Blues. Kein Hip-Hop ohne den fröhlichen Mix von rheinischer Kunststudenten-Musik mit diasporischen Traditionen des Wortsports. Musik kann zwar einen großen Reiz durch ein strenges formales Regelwerk wie etwa in der Zwölftonmusik beziehen, fast naturwüchsig tendiert sie aber zum Austausch, zur Symbiose und zur Verschmelzung.
Keiner meiner Bandkollegen hätte etwas gegen ein solches Verständnis von evolutionärer, sich stets fortentwickelnder Volksmusik – im skizzierten Sinne – einzuwenden gehabt. Und doch gab es zunächst ernsthafte Vorbehalte gegenüber dem Gebrauch freier Lizenzen, also Lizenzen, die auch die kommerzielle Verwertung durch andere ausdrücklich erlauben. Was, wenn jemand die Musik klaut und damit Erfolg hat? Ein Argument, dass zwar in hochkompetitiven Marktumfeldern eine gewisse Plausibilität besitzt, dessen Anwendung im Amateurbereich aber einfach nicht funktioniert. Denn dort gibt es keine klare Trennung von Produzenten und Nutzern mehr, vielmehr immer mehr „Produtzer“, wie der Medienforscher Axel Bruns sie nennt.
Zudem sind Amateure für gewöhnlich nicht auf eine Refinanzierung ihrer musikalischen Aktivitäten angewiesen, weshalb der Einzug eines nicht-kommerziellen Schutzbereichs nicht zwingend erforderlich ist. Wie andernorts ausführlich beschrieben, ist die Bestimmung der Grenzlinie zwischen kommerziellen und nicht-kommerziellen Aktivitäten oftmals sehr schwierig, zum Beispiel in Jugendclubs, auf Blogs oder im Bildungsbereich. Von daher sollten sich Bands tatsächlich überlegen, ob sie mit ihrer Musik eher andere animieren oder abmahnen möchten. Im Grunde, so meine Vermutung, geht es bei der diffusen Angst vor dem künstlerischen Diebstahl eigentlich um die Furcht davor, der eigene Beitrag, die eigene Kreativität könnte durch andere verdeckt werden. Es geht um den Respekt vor der eigenen Leistung, den man auch bei der Diffusion von Inhalten durchs Netz gewahrt sehen möchte.
„Co-Kreation“ statt einsamer Schöpfung
Da die meisten freien Lizenzen jedoch verlangen, den Urheber zu nennen, kann auch eine Mit-Urheberschaft nicht einfach negiert oder überschrieben werden. Was kann es also Schöneres geben als einen unerwarteten Erfolg durch jemand Dritten, der mein musikalisches Material als interessant genug erachtet, um darauf aufbauend etwas Neues zu schaffen? „Nachahmung ist die höchste Form der Anerkennung“, schrieb Oscar Wilde. Ich meine, im digitalen Zeitalter sollte für reine Nachahmung besser der Begriff „Co-Kreation“ eingesetzt werden. Das Leitbild kreativer Schöpfung sollte gemeinschaftliche Prozesse stärker berücksichtigen und Kollaboration durch freie Lizenzen mit den entsprechenden Bearbeitungsfreiheiten erleichtert werden.
Diese Art von „Volksmusik“ haben auch The Grateful Dead übrigens nicht erreicht. Trotz ihrer großzügigen Bootlegging-Regeln haben sie sich nicht vom Copyright-System und dem Denken festgeschriebener Autorschaft gelöst. Vielleicht liegt darin aus ihrer Sicht ja gar kein Widerspruch. Denn die kalifornische Ideologie hat es stets gut verstanden, Freiheitsstreben und Geschäftstüchtigkeit auf wundersame Weise zu versöhnen. Auch Frank Zappa, ebenfalls einer dieser Apologeten des free, war einer der härtesten Verfolger von Urheberrechtsverletzungen, bevor ihn später Metallica darin überholten. Der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen erkundete den Zusammenhang von Hippie-Kultur, kalifornischer Ideologie und Internet-Business vor zwei Jahren mit der Ausstellung „The Whole Earth“ und wies auf eine spezifische Wechselwirkung hin:
Bestimmte Freiheitsmodelle werden frühzeitig entwickelt und gegenkulturell erprobt, aber eben auch verwertet und in einer Weise vermarktet, die die Freiheitlichkeit der Ideen mit der Freiheit von Markt und Unternehmen verwechselt: den Kräften also, die nicht frei sein sollten und die sich auch in Kalifornien ihre Innovationen ja auch gerne von Steuerzahlern subventionieren lassen.
Ob angesichts kleiner Reformen bei der GEMA und öffentlicher Förderung für Popkultur als wirtschaftlichem Standortfaktor genügend Menschen den Charme des musikalischen Schenkens erkennen? Konsequent eingeschlagen, könnte dieses Prinzip musikalische Fortentwicklung in ganz anderer Weise befördern als industrielle Schutzmaßnahmen oder institutionelle Stipendienprogramme. Du da, nimm meinen Song.
Dieser Text erscheint unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA.
3 Kommentare
1 Fabian Neidhardt am 6. September, 2015 um 19:43
Lieber Jan, liebes iRights-Team, ich habe mir die Freiheit genommen, den Artikel einzusprechen und eine Hörfassung daraus zu machen, natürlich unter CC ;) http://www.mokita.de/blog/2015/09/06/audio-das-gemeinsame-in-der-musik-von-the-grateful-dead-zu-creative-commons/
Viel Spaß damit, Lächeln, Fabian.
2 David Pachali am 7. September, 2015 um 09:48
Sehr schön, vielen Dank!
3 tom liwa am 1. August, 2021 um 21:33
und gibts dann auch instrumente umsonst und ne grundrente oder wird einfach nur der verdienst abgeschafft und ausschließlich ärzte und rechtsanwälte können sich das musizieren noch leisten?
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