Vorwort
Mit diesen auf das Ganze der Gesellschaft zielenden Fragen beteiligte sich die Heinrich-Böll-Stiftung vor über zehn Jahren am gesellschaftlichen Diskurs über die Wissensgesellschaft. Erster Höhepunkt war der Kongress „Gut zu wissen – Links zur Wissensgesellschaft”, der 2001 kurz vor dem Ende der Dotcom-Euphorie mit riesiger Resonanz stattfand.
Mit der Dotcom-Blase platzte mehr als der Traum der Börsianer von steigenden Kursen und die Hoffnung der Ökonomen auf immerwährendes Wachstum. Schiffbruch erlitt auch die Annahme eines sich vor unser aller Augen unwiderstehlich vollziehenden Fortschritts von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Sie wich der ernüchterten Einsicht, dass die soziale und vor allem institutionelle Grundlage sowohl der Industrie-wie auch der Wissensgesellschaft die bürgerliche Gesellschaft ist. Und die hat Bestand. In den vergangenen 50 Jahren hat diese bürgerliche Gesellschaft viele neue und konkurrierende Formationen – die industrielle, spätkapitalistische, postindustrielle, postmoderne oder nachbürgerliche Gesellschaft, die Risiko-, Erlebnis-, Medien-, Konsum-, Disziplinar-, Verantwortungs-oder Wissensgesellschaft – er-und überlebt. Mit jeder neuen Formation steigerte sie zugleich ihr Reflexionsniveau. Denn diese Zuschreibungen sind aufmerksamkeits-und ressourcensteuernde Diagnosen einer um ihre Kontingenz wissenden bürgerlichen Gesellschaft. Sie heben jeweils nur einen Bereich gesellschaftlichen Handelns besonders hervor. Indem sie Akteure durch Dramatisierung alarmieren und orientieren, lösen sie kontrollierende, integrierende und ausgrenzende Ausgleichmanöver aus, nämlich etwas zu „unternehmen” und „Verantwortung” zu übernehmen oder besondere „Chancen zu nutzen”. Das ist auch die diskursive Funktion des Begriffs Wissensgesellschaft: Er will Akteure der bürgerlichen Gesellschaft, für die die Eigentumsfrage zentral ist, für die Nutzung von Chancen mobilisieren – allen voran Chancen der freiheitlichen Verfügung über ihr (geistiges) Eigentum, des freien Zugangs zu Wissen als Gemeingut und der selbst gesteuerten Kollaboration freier Wissensarbeiter/ innen auf der Grundlage geteilten Wissens. Über wen sprechen wir dabei?
Aus der immer stärker wissensbasierten Ökonomie folgen strategische Vorteile für die Dienstleister. Gehen sie abends nach Hause, verlässt das Kapital das Unternehmen, das nur hoffen kann, dass sein Kapital morgens wieder zurück- Vorwort kehrt. Während die Subjekte die Ambivalenz ihrer neuen Freiheiten als Arbeitskraftunternehmer oder „digitale Bohème” erfahren, bemühen Unternehmen sich um Wissensmanagement, stellen sich der Bewertung ihrer Leistungsfähigkeit durch Wissensbilanzen und orientieren zunehmend auf kollaborative Formen von Forschung und Entwicklung im Wege von „Open Innovation”. Wo es um Innovationen geht, haben die Unternehmen schon längst erkannt, dass allzu striktes Urheber- und Patentrecht eher hinderlich ist. Diesen Fragen ging die Heinrich-Böll-Stiftung in der Konferenz und Publikation Die wunderbare Wissensvermehrung. Wie Open Innovation unsere Welt revolutioniert (PDF) 2006 nach.
Die Chancen der Wissensgesellschaft, das hat das Ineinander von Klima-, Finanz-und Wirtschafts-sowie von Rohstoff-/Ernährungskrise drastisch vor Augen geführt, werden verspielt, wenn sie nicht in Richtung einer nachhaltigen, ressourceneffektiven und ressourcenleichten Weltgesellschaft fair verteilter Chancen gelenkt werden. Damit erhält die Frage „Wem gehört das Wissen?” eine globale Dimension, die Frage nach Wissen als Gemeingut („Knowledge Commons”) weitet sich zur Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Bewirtschaftung globaler Gemeingüter in Prozessen von Kollaboration und Wohlstandsteilung. Diesen Fragen widmet sich die Böll-Publikation Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter von 2009 (PDF).
Schon in seinem Beitrag für den Böll-Kongress „Gut zu wissen” von 2001 postulierte André Gorz, dass eine nachhaltige Wissensgesellschaft eine Kulturgesellschaft sein müsse, die den Menschen durch freien Zugang zu Wissen die Möglichkeit zur aktiven Teilhabe an und Gestaltung ihrer Kultur biete. Ausgearbeitet hat Gorz dieses Konzept in seinem Buch Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomi evon 2004. Im selben Jahr sprang ihm Lawrence Lessig mit der Streitschrift Free Culture. How Big Media Uses Technology and the Law to lock Down Culture and Control Creativity bei. Beim Streit über die Anpassung des Urheberrechts an die Möglichkeiten des digitalen Zeitalters kann es sinnvollerweise nur um die Erweiterung der Möglichkeiten aktiver kultureller Teilhabe gehen. Der souveräne Konsument, der hier und dort („frei”) auswählt und für seine private Nutzung möglichst nichts bezahlen will, ist nicht das Ziel. Seine Haltung ist – in den Grenzen des Urheberrechts – legitim, aber sie ist nicht förderungswürdig, weil sie nichts zu einer demokratischen Kultur beiträgt.
Der Free-Culture-Ansatz hingegen impliziert ein weitaus breiteres (bürgerliches) Verständnis des Freiheitsbegriffs, als es die oft bemühte Assoziation „Freibiermentalität” zu verdeutlichen mag. Der Streit wird vielmehr geführt über die technologischen und rechtlichen Möglichkeiten, ob und wie die Nutzung von informationellen Gütern selbst öffentlichen Ausdruck finden kann. Die Content-Industrie möchte das Urheberrecht dahin erweitern, dass es ihr hilft, alle Informationsgüter so lange wie möglich (gemäß höchster US-Rechtssprechung: prinzipiell „unendlich minus 1 Jahr”) zu kontrollieren und den Zugang zu beschränken, um sie als knappe Güter kommerziell an private Konsumenten verkaufen zu können. Die Free-Culture-Bewegung setzt dagegen beim Recht auf freie Nutzung der Privatkopie an, das sie weiterentwickeln möchte zum Recht auf nicht-kommerzielle Verarbeitung (Remix) und Produktion neuer kultureller Beiträge.
Diese Idee hat mittlerweile die EU-Kommission erreicht, die in ihrem Green Paper Copyright in the Knowledge Society von 2008 danach fragt, ob nicht die privatwirtschaftliche Kontrolle urheberrechtlich geschützter Güter durch eine Ausnahme für die kreative nicht-kommerzielle Nutzung beschränkt werden sollte. Das könnte den Einstieg in eine digitale Kultur bedeuten, die es jedem Nutzer erlaubte, kreativ zu sein – ganz wie es Joseph Beuys gefordert hat. Und was ist mit denen, die sich als professionelle Kreative sehen, verstehen sie sich heute ebenso als Urheber? Auch hier lohnt ein genauerer Blick. Es gibt bereits Kreative, die einträgliche Geschäftsmodelle jenseits des Urheberrechts entwickeln, während ihre Mehrzahl, in Erinnerung an Heinrich Bölls Rede „Vom Ende der Bescheidenheit” 1969 vor dem Schriftstellerverband, die Beteiligung der Urheber an den im Internet erwirtschafteten Gewinnen verlangen und hierzu den Weg einer Anpassung des Urhebervertragsrechts einschlagen wollen.
Die Debatte über die Ermöglichung einer freien Kultur für aktive Nutzer, verstehen sie sich nun als Kreative oder Urheber, hält an. Einstweilen verfolgt die Europäische Kommission eher das Ziel, die privatwirtschaftliche Kontrolle durch Maßnahmen zum „Copyright Enforcement” zu stärken, die Freie-Kultur-Bewegung als Piraterie zu bekämpfen und die Forderungen auf Beteiligung der Urheber oder Kreativen an der Wertschöpfung zu ignorieren. Wie die Böll-Tagung „Enteignung oder Infotopia? Google Books und die Zukunft des Wissens” im Oktober 2009 unterstrich, machen etwa verwaiste Werke, für die es keinen Markt, unter Umständen aber Bedarf für kreative Nutzung gibt, nur allzu deutlich, dass wir ärmer würden, behielten die private Kontrolle und die kommerzielle Nutzung das letzte Wort. Bleibt abzuwarten, ob sich Piraterie demgegenüber als eine periphere Strategie zur Förderung einer freien Kultur erweist oder aber als Lobpreis einer Kultur der Schnäppchenjäger.
Egal, ob der Anspruch auf Urheberschaft erhoben wird oder nicht: Zu den Fairnessregeln der kreativen Kultur gehört der Dank an diejenigen, denen das Produkt sein Erscheinen verdankt. Herzlichen Dank also an Chris Piallat, zur Zeit Heinrich-Böll-Stiftung, und Philipp Otto von iRights.info, die diesen Reader redaktionell betreut und erfolgreich zur Publikation gebracht haben.
Berlin, im April 2010
Dr. Andreas Poltermann ist Leiter der Abteilung Politische Bildung Inland bei der Heinrich-Böll-Stiftung.
Dieser Beitrag gehört zur Reihe „Copy.Right.Now! – Plädoyers für ein zukunftstaugliches Urheberrecht”, die auch als gedruckter Reader erschienen ist.
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