Copyright und P2P-Netzwerke: Himmel oder Hölle der Kreativen?
Illustration: Luis Britos (CC-BY-NC-SA), Bearb. iRights
Von einer einfachen industriellen Verordnung…
Die erste dokumentierte Auseinandersetzung zwischen der Kulturindustrie und einer heterogenen Gruppe, die heute in aller Kürze (aber nicht Genauigkeit) stigmatisierend „Piraten” genannt wird, hat sich wohl im ausgehenden 17. Jahrhundert in Großbritannien abgespielt. Der Druck mit beweglichen Lettern, der mit den Jahrhunderten immer mehr Verbreitung fand und dabei ständig vervollkommnet wurde, erlaubte die Serienproduktion von Büchern und brachte steigende Alphabetisierungsraten. Dies ging mit der Entwicklung bestimmter sozialer Gruppen einher (eine aufblühende Bourgeoisie, die zunehmende staatliche Bürokratie) und schuf einen Markt, der so anspruchsvolle Güter wie Bücher gierig aufnahm. Zu jener Zeit verlangten die Londoner Verleger für ein von ihnen erworbenes Original ausschließliche und ewig geltende Veröffentlichungsrechte. Aber fernab von London ignorierten die Drucker diese neuartige Forderung und boten dieselben Bücher zu einem günstigeren Preis feil – ohne die in der Metropole erhobene Monopolsteuer.
Die Forderung der Verlage war in der Tat neu. Vor der Erfindung der beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg gab es keine Beschränkungen für die Vervielfältigung von Büchern: Den wenigen, die an ein Buch herankamen und die es lesen konnten, stand es frei, das Buch zu kopieren, sofern sie Zeit und Lust dazu hatten. Vor dem Konflikt, den die Londoner Buchhändler mit ihrer Forderung nach einem dauerhaften Monopol auf die von ihnen herausgegebenen Bücher entfachten, gab es weder das angelsächsische Copyright noch sein kontinentales Pendant, das Urheberrecht.
Königin Anne Stuart mag davon ausgegangen sein, dass man sich ihrer wegen der Vereinigung von England und Schottland zu Großbritannien erinnert würde, stattdessen wird sie heute häufiger in Bezug auf das sogenannte „Statute of Queen Anne” erwähnt, welches 1710 in Kraft trat. Mit diesem Gesetz bekamen die Buchhändler exklusive Veröffentlichungsrechte eingeräumt, allerdings begrenzt auf 14 Jahre und verlängerbar um weitere 14 Jahre – so der Autor das Glück hatte, dann noch am Leben zu sein.
Seit diesem Gesetz, das zum ersten Mal die Möglichkeit der Vervielfältigung eines Werkes einschränkte – in diesem Fall ging es um literarische Werke, aber mit dem technologischen Fortschritt sollte der Ansatz auf andere Bereiche übergreifen –, lautete die theoretische Gleichung mehr oder weniger wie folgt: Die Bürger verzichten auf ihr Recht zur Vervielfältigung, und im Gegenzug wird die Entwicklung der Verlagsbranche gefördert, wovon wiederum die Bürger profitieren. Um Missbrauch, den jede Monopolstellung mit sich bringt, einzuschränken, wird dieses Monopol zeitlich begrenzt. Denn dass solch eine Regelung Monopole schaffen würde, wurde schon frühzeitig von amerikanischen Verfassungsrechtlern befürchtet, die am Ende trotz ihrer Bedenken ein Copyright-Gesetz annahmen, das die gleichen Laufzeiten hatte wie in Großbritannien. [Der erste Copyright Act der USA wurde 1790 verabschiedet, Anm. d. Red.]
Allerdings war der Verzicht auf das Recht zur Vervielfältigung damals kein wirklich großer Verzicht: Um effizient zu kopieren, brauchte man industrielles Gerät, worüber ein begeisterter Leser nicht verfügte. Streng genommen handelte es sich um eine Art industrieller Verordnung, die die Wettbewerbsbedingungen zwischen den Verlagen regeln sollte.
…zum Orwellschen Alptraum
Seit jenem fernen 18. Jahrhundert hat sich einiges verändert. Im vergangenen Jahrhundert wurde die Dauer des Monopols stets verlängert. In den Vereinigten Staaten nennt man dies „Mickey-Mouse-Gesetzgebung”, weil jedes Mal kurz bevor die Maus gemeinfrei wird, die Dauer des ausschließlichen Nutzungsrechts durch eine geeignete Reform ausgeweitet wird. Wenn das so weitergeht, gilt das Monopol bis in alle Ewigkeit. Zwar gibt es lokale Unterschiede in der Welt, aber die Grundlaufzeit des ausschließlichen Nutzungsrechtes beträgt derzeit meist siebzig Jahre nach dem Tod des Urhebers. Heute wird das Verbot der Vervielfältigung von Werken eingefordert, als sei es ein Naturrecht der Industrie, insbesondere der Musikindustrie, statt einer industriellen Verordnung, die ursprünglich auf das Gemeinwohl abzielte. Darüber hinaus werden ständig härtere Strafen und mehr Kontrollen gefordert.
Im Gegensatz zu früher brauchen wir heute keine industrielle Infrastruktur mehr, um Texte zu kopieren oder Musik und Multimediaformate zu produzieren, zu bearbeiten und zu verteilen. Früher hat die Gesellschaft ein Recht abgetreten, das sie kaum ausüben konnte, heute kann sie es ausüben, und sie hat offenbar beschlossen, sich dieses Recht zurückzuerobern. Jeden Tag laden mehr Menschen Musik oder Multimedia-Dateien vom Internet herunter, trotz der wachsenden Bedrohungsszenarien, die in den Medien aufgebaut werden.
Ist es wirklich sinnvoll, normgebende Institutionen zu stärken, die sich in einem so gänzlich anderen Kontext entwickelt haben? Und kann das Weitergeben und Kopieren von Dateien tatsächlich kontrolliert werden? Die kurze Antwort lautet „Nein” – zumindest nicht, ohne eine Überwachungsstruktur ins Werk zu setzen, die bürgerliche Grundrechte wie den Schutz der Privatsphäre in der Kommunikation zerstören würde. Es gibt einige Länder, die dieser Versuchung erlegen sind, entgegen ihrer eigenen Geschichte der Verteidigung der Persönlichkeitsrechte. Unter ihnen die Vereinigten Staaten des George W. Bush, wo ein pompös klingender „Digital Millennium Copyright Act” (DMCA) verabschiedet wurde, nach dem fast alles illegal ist, was mit Texten, Musik, Multimediaformaten und Software, oder was sich auch immer auf einem digitalen Träger befindet, machbar ist. Vor einiger Zeit wurde eine Universität, die geprüft hatte, wie zuverlässig elektronische Wahlurnen sind, von den Herstellern eingeschüchtert, sie möge ihre Untersuchungen einstellen, um nicht wegen Verstoßes gegen den DMCA verklagt zu werden. Unglaublich aber wahr: Die stete Verschärfung des Urheberrechts führt dazu, dass die Bürger nicht einmal mehr versuchen dürfen herauszufinden, was in der Urne steckt, in die sie ihre Stimmen abgeben.
Romantischer, aber nicht weniger besorgniserregend ist die Haltung des französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy, der seine künftige Ehefrau auf einer Veranstaltung mit Künstlern und Plattenfirmen kennenlernte, auf der mehr Kontrolle über Musik-Downloads eingefordert wurde. Während des medienwirksamen Flirts, der diesem Treffen folgte, bekam Carla Bruni von ihrem Liebhaber nicht nur Rosen, Pralinen und einen Trauring geschenkt, sondern auch die „Oliviennes-Vereinbarungen”, die es gestatten, die Aktivitäten der Bürger im Internet zu kontrollieren.
Demgegenüber hat Italien die Notbremse gezogen und solche Auswüchse nicht zugelassen. Im März 2008 erklärte die italienische Behörde für den Schutz der Privatsphäre, dass „die Überwachung von Internet-Nutzern, um zu prüfen, ob Dateien untereinander getauscht werden, eine Verletzung des Rechts auf Geheimhaltung der privaten Kommunikation darstellt”. Seit die Parole „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit” aufkam, gilt der Grundsatz, dass Bürgerrechte einen breiteren Anwendungsbereich und einen höheren Stellenwert haben als die Rechte einzelner Gruppen.
Die Musikindustrie – große Protagonistin der Wandelbarkeit – wurde bereits als „alter Klepper” beschrieben, selbst von demjenigen, der den Kreuzzug gegen die Raubkopierer in Spanien anführt, dem unerträglichen Ramoncín [Spanischer Sänger und Schauspieler. Er war Vorstandsmitglied der Spanischen Gesellschaft für Autoren und Verleger, SGAE. Ramoncín hat denkwürdige Vergleiche strapaziert, etwa jenen zwischen Musikdownloads und dem Dealen von Drogen, Anm. d. Red.]. Statt sich selbst neu zu erfinden, hat der alte Klepper nun alle verfügbaren Energien eingesetzt, um den Zustand von vor der letzten technologischen Revolution künstlich aufrechtzuerhalten, um auch weiterhin auf ein längst überholtes Geschäftsmodell setzen zu können.
Bitte, raubkopiert meine Lieder
Die Musiker selbst sehen da viel klarer. Jene an der Spitze der Pyramide erheben empört ihre Stimme gegen die Piraten, diese einäugigen und holzbeinigen Wesen, ohne sich bewusst zu machen, dass sie ihre eigenen Fans beleidigen.
Aber die große Mehrheit im Musikbusiness, jene, die (noch) nicht den süßen Segen großer Erfolge genossen haben, wissen, dass ihr Geschäft davon abhängt, wie viele Leute sie hören und nicht davon, wie viele CDs sie verkaufen, die ihnen mit etwas Glück ein paar Cent einbringen. Ein spanischer Musiker veröffentlichte dazu einen Text, der inzwischen Manifestcharakter hat, sein Titel ist aufschlussreich: „Bitte raubkopiert meine Lieder”. Er weiß, ob er von seiner Kunst leben kann oder nicht, hängt davon ab, ob viele Menschen seine Konzerte besuchen, und dafür ist es egal, ob sich die Fans durch legale oder illegale Downloads in seine Musik verlieben.
Die argentinische Band Redondos hatte das schon zwei Jahrzehnte, bevor P2P aufkam, begriffen: Im gleichen Plattenladen, in dem man Eintrittskarten für ihre Konzerte bekam, konnte man ihre „raubkopierten”, direkt am Mischpult aufgenommenen Kassetten kaufen. So erreichten sie ein größeres Publikum und einen Bekanntheitsgrad, der anderen einheimischen Rockbands versagt blieb. Als sie etwas später ihr Album „Keine Piraten” veröffentlichten, gehörten sie zu den ersten, die verstanden hatten, worum es eigentlich ging. Sie schmückten das Cover der CD mit einem Meisterwerk von Rocambole*. Von dieser Scheibe nicht das Original zu besitzen, war so, als würde man sie unvollständig besitzen. Niemand wollte eine Kopie ohne das Kunstwerk auf dem Cover.
Weit weg von der argentinischen Pampa, aber zeitlich sehr nah brachte die Gruppe Radiohead ihr Album „In Rainbows” ohne Plattenfirma auf den Markt. Sie machte es auf einer Website für jedermann verfügbar und zwar zu dem Preis, den jeder freiwillig zu zahlen bereit war. Die Band hat sich zu den Einnahmen aus diesem Projekt nie geäußert, aber niemand zweifelt daran, dass es um ein Vielfaches mehr war als das, was Radiohead mit dem besten Vertrag hätte bekommen können.
Das Musikgeschäft ist nicht die einzige Branche, auf die sich die neuen Technologien und der Trend zu immer neuen Zugangsbeschränkungen auswirken. Diese Entwicklung betrifft alles, was in ein digitales Format gebracht werden kann: das Wissen, die Information und jedes einzelne Produkt der Kulturtechnik unserer Zeit, die Software. Allerdings gibt es zunehmend organisierten Widerstand: freie Software gibt es seit über 20 Jahren und sie ist eine echte Bedrohung für die Informationsmonopole geworden, Wikipedia ist kein verrücktes Abenteuer mehr, sondern wurde zur größten Informations- und Wissenssammlung in der Geschichte der Menschheit. Es gibt zunehmend Alternativen zum starren und überholten System des „Alle Rechte vorbehalten”, so z.B. die Creative-Commons-Lizenzen. Sie ermöglichen es, das zu flexibilisieren, zu erweitern und an die individuellen Wünsche anzupassen, was ein Autor seinen Nutzern oder Lesern mit seinem Werk zu tun gestattet.
Wohin wird die Reise gehen? Wird es weitere Nutzungsbeschränkungen geben oder werden die neuen Möglichkeiten über soziale Netze berücksichtigt und akzeptiert, um Kulturgüter zu verbreiten? Wird ein beispielloses Überwachungssystem aufgebaut, um jene zu verfolgen, die diese Beschränkungen umgehen, oder werden die neuen Technologien genutzt, um den universellen Zugang zu Wissen und Kultur zu gewährleisten? Wird durch die künstliche Zugangsbeschränkung zu Gütern, die in Fülle vorhanden sind, Knappheit hergestellt (und damit Geschäftsmöglichkeiten) oder werden neue Geschäftsmodelle in den technologischen Umgebungen des 21. Jahrhunderts entstehen? Ist die Kultur durch kontrollfreien Austausch bedroht oder liegt die eigentliche Gefahr in dem Versuch, zu verhindern, dass Kulturgüter wieder verwendet (oder neu erstellt oder schlicht geteilt) werden?
Wer weiß, vielleicht spielt hier auch eine Rolle, welches Konzept jeder Einzelne mit Kunst und Wissenschaft verbindet. Da sind jene, die darin ein Phänomen sehen, das vom Genie und der Inspiration von Künstlern und Wissenschaftlern vorangetrieben wird, und da sind andere, die in der Entwicklung von Kunst und Wissen ein soziales Phänomen sehen, das in einem notwendigen und intensiven Dialog mit der Geschichte und der Gegenwart steht. Vielleicht ist die Sache auch schlichter, und wir streiten einfach nur darüber, wer das größte Stück vom Kuchen bekommt.
Addendum 1
Was sagen die Institutionen, die in Argentinien mit dem Urheberrecht befasst sind? Die Argentinische Kammer der Produzenten von Tonträgern und Videos (CAPIF10), ist die aktivste öffentliche Stimme im sogenannten Kampf gegen die Piraterie. Sie führt regelmäßig Prozesse gegen Personen, die des Dateientauschs überführt werden und verbreitet verschwenderisch die Ergebnisse außergerichtlicher Vereinbarungen, auch wenn bis heute noch keine rechtskräftigen Urteile bekannt geworden sind. Zitat CAPIF:
CAPIF setzt sich konsequent gegen Musikpiraterie ein, mit dem Ziel, dass sich künstlerische Kreativität entwickelt kann, dass Produktionen und Investitionen möglich sind und es eine argentinische Musikindustrie gibt. – Eine von zwei Scheiben, die in Argentinien verkauft werden, sind Raubkopien. – In den vergangenen sechs Jahren fiel der Umsatz mit rechtmäßig verkauften Platten auf die Hälfte. – Das hat Arbeitsplätze gekostet. – Der Staat verliert Einnahmen, weil die Raubkopierer keine Steuern zahlen. – Die Autoren, Komponisten und Interpreten erhalten keine Tantiemen auf ihre musikalischen Schöpfungen, wenn die Tonträger illegal verkauft werden.
Auf der gleichen Internetseite befindet sich der Bericht zur wirtschaftlichen Entwicklung der Branche aus dem Jahr 2007. Neben anderen bemerkenswerten Daten kann man diesem Bericht entnehmen, dass die Branche 2007 um 9,6% gewachsen ist. Kein schlechter Schnitt für solch dramatische Not.
Addendum 2
Die Gremien der Branche veröffentlichen allenthalben Pressemitteilungen mit Zahlen, die die Katastrophe beschreiben sollen. CAPIF erwähnt gewöhnlich die Millionen, die der Branche verlorengehen. Dazu sei angemerkt, dass diese Verlustrechnung der Annahme folgt, dass jedes aus dem Internet heruntergeladene Lied einem Album entspricht, das nicht verkauft wird. Das ist eine zumindest gewagte These: Eine im Internet verfügbare Studie der Universität von North Carolina („Der Effekt von File-Sharing auf die Umsätze der Plattenindustrie”, PDF) zeigt, dass die Auswirkung des Datenaustauschs in P2P-Netzen gleich Null sind. Die Autoren geben sogar das Gegenteil von dem zu bedenken, was die Musikindustrie ins Feld führt: Viele Platten wären gar nicht erst gekauft worden, hätten die Käufer sie nicht zuvor über ihre P2P-Netzwerke kennengelernt.
Patricio Lorente arbeitet als Sekretär des Studentenwerks an der Nationalen Universität La Plata. Seit 2005 ist er für Wikipedia tätig, wo er als „Bibliothekar” der spanischsprachigen Edition ausgewählt wurde. Seit 2007 ist er Präsident von Wikimedia Argentina, der offiziellen Zweigstelle der Wikimedia-Stiftung in Argentinien. Dieser Beitrag erschien im Reader Argentina Copyleft! Neue Spielregeln für das digitale Zeitalter? Ein Blick nach Argentinien, herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung. Er steht unter der Creative-Commons-Lizenz BY-NC-SA. Übersetzung aus dem Spanischen: Silke Helfrich.
* Rocambole (Ricardo `Mono` Cohen) studierte an der Hochschule für Schöne Künste in La Plata, Argentinien. 1967 stellte er zum ersten Mal in Buenos Aires aus. Angesichts der Repressionen der Militärregierung verlässt er die Hochschule, organisiert eine Welle von Universitätsaustritten und gründet eine parallele Institution, La Comunidad Autónoma de La Cofradía de La Flor Solar. 1973 kehrt er an die Hochschule zurück, wo er 1975 seinen Abschluss macht. Rocambole begann, Comics zu zeichnen und versuchte sich an einem Plattencover von Patricio Rey y sus Redonditos de Ricota. Fortan zeichnete er alle Cover, Plakate und Bühnenbilder der Redondos. [Anm. d. Red.]
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