Copyfraud und Overclaiming – was beim Umsetzen der EU-Urheberrechtsreform zu beachten ist
Am 26. März stimmte das Europäische Parlament dem Richtlinienentwurf für eine Reform des EU-Urheberrechts zu. Am 15. April segnete der EU-Ministerrat die Reform ab. Die Mitgliedstaaten haben jetzt zwei Jahre Zeit, sie in nationales Recht umzusetzen.
Unvermeidlich: Uploadfilter
Laut Artikel 17 der neuen Richtlinie (zuvor Artikel 13) sollen Plattformen künftig direkt haften, wenn Nutzer*innen urheberrechtlich geschützte Inhalte hochladen. Bislang haften sie erst, wenn sie von derartigen Verstößen Kenntnis erlangt haben. (So sieht es die sogenannte eCommerce-Richtlinie aus dem Jahr 2000 vor. Deren Artikel 14 wird von Artikel 17 der neuen Urheberrechtsrichtlinie für Plattformbetreiber ausdrücklich außer Kraft gesetzt.)
Diese neue Regel bedeutet für die Plattformen denknotwendig, dass sie die von Nutzer*innen hochgeladenen Inhalte bereits beim Upload kontrollieren müssen, wenn sie sich nicht einem unkalkulierbaren Haftungsrisiko aussetzen wollen. (Wer immer noch behauptet, Artikel 17 verpflichte niemanden zu Uploadfiltern, ist entweder schlecht informiert oder nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau.)
Für Dienste, die auf nutzergenerierten Content setzen, bleibt nur der Einsatz eines automatischen Filters, da die Datenmengen zu groß sind, als dass Menschen sie alle sichten könnten. Allein auf Youtube werden angeblich pro Minute 100 Stunden Videomaterial hochgeladen.
Einige Plattformen haben bereits solche Filter. Der wohl bekannteste ist Youtubes „Content ID“. Dieses System vergleicht sowohl die Altbestände als auch jeden neuen Upload mit hinterlegten Referenzdateien. Die Referenzdateien füllt Youtube nicht selbst in die Datenbank. Vielmehr wird bestimmten Rechteinhabern, deren Inhalte als besonders gefährdet angesehen werden, die Nutzung von Content ID gestattet. (Anmerkung: Mit „Rechteinhaber“, „Produzent“, „Hersteller“ und „Content-ID-Nutzer“ werden in diesem Text ausschließlich Unternehmen und nicht natürliche Personen bezeichnet. Daher wird bei diesen Begriffen auf das Gendersternchen verzichtet.)
Zu diesen Rechteinhabern gehören allen voran Musiklabels und Film- beziehungsweise Serienproduzenten, aber auch Hersteller von Videospielen oder der Weltfußballverband FIFA. Diese laden ihre Inhalte in die Referenzbibliothek hoch und legen in einer sogenannten Richtlinie fest, was mit Videos anderer Nutzer*innen geschehen soll, welche diese Inhalte oder Teile davon enthalten. Drei „Eskalationsstufen“ sind möglich: Man kann das Video einfach nur beobachten, sodass man über die Zuschauerzahlen informiert wird. Man kann vor dem Video Werbung schalten lassen und es so monetarisieren. Oder man kann das komplette Video sperren, sodass eine Wiedergabe nicht mehr möglich ist.
Overblocking und Overclaiming
Schon seit der Einführung von Content ID gelangen immer wieder Beschwerden über sogenanntes Overblocking oder Overclaiming an die Öffentlichkeit. Damit ist gemeint, dass Videos gesperrt, monetarisiert oder auch nur beobachtet werden, obwohl keine Urheberrechtsverletzung vorliegt.
Diese Fälle lassen sich grob in drei Kategorien einteilen:
1. Keine Übereinstimmung („false flag“)
Das System schlägt an, obwohl es keine Übereinstimmung mit der Referenzdatei gibt. Content ID hat beispielsweise mehrfach Vogelgesang oder sogar weißes Rauschen einem Musiklabel zugeordnet. Vom selben Problem berichten Interpret*innen klassischer Musik, die ihre eigenen Aufnahmen auf Youtube hochladen. Offenbar kann das System neue Einspielungen nicht von bereits veröffentlichten Versionen unterscheiden, die einem Klassiklabel gehören.
2. Rechtmäßige Nutzung
Das System schlägt an, weil es die Verwendung eines geschützten Inhalts entdeckt, doch diese ist von einer der Ausnahmen im Urheberrecht gedeckt. Diese sogenannten Schrankenregelungen gestatten es beispielsweise aus geschützten Werken zu zitieren oder sie im Rahmen von Satire zu nutzen, ohne die Rechteinhaber um Erlaubnis fragen zu müssen. Wieder und wieder wurde vor der Urheberrechtsreform darauf hingewiesen, dass automatische Filter nicht erkennen können, ob nicht das Zitatrecht oder – in den USA – das Recht auf Fair Use die Nutzung geschützter Inhalte in einem bestimmten Fall erlauben.
3. Unzulässiger Claim
Labels, Studios oder Produktionsfirmen beanspruchen per Content ID Inhalte, die ihnen gar nicht gehören.
Diese Einteilung ist nicht rein akademisch. Vielmehr verdeutlicht sie, wer für das Overclaiming verantwortlich ist und wie man es lösen kann.
Fehler der ersten Kategorie passieren, weil der Filter nicht korrekt arbeitet. Google entwickelt das System allerdings ständig weiter. Irgendwann, so das Versprechen, werde Content ID genau erkennen können, ob es Lang Lang ist, der gerade Mozarts „Rondo Alla Turka“ spielt, oder doch nur meine Nachbarin.
Was die zweite Kategorie angeht, so nimmt die Reformrichtlinie direkt auf die urheberrechtlichen Schranken Bezug (Artikel 17, Absätze 7 und 9; PDF, Seite L130/120-121). Demnach sollen die Plattformen Mechanismen bereitstellen, um den Nutzer*innen die Ausübung ihrer durch die Schranken gewährten Rechte zu ermöglichen. Beschwerden „sind einer von Menschen durchgeführten Überprüfung zu unterziehen“.
Die Zeit wird zeigen, wie erfolgversprechend diese Lösungsansätze für Fehler der Kategorien eins und zwei sind. Wichtig ist aber, dass die Verantwortung hier allein den Plattformen und Nutzer*innen zugewiesen wird, nicht den Rechteinhabern. Diese können sich bezüglich der ersten Kategorie stets darauf zurückziehen, dass der Fehler bei der Plattform liege. Bei Fällen der zweiten Kategorie müssen Nutzer*innen sich wehren; die Anerkennung ihrer Rechte erfolgt nicht automatisch.
„Unrechtmäßige Schutzrechtsberühmung“
In den Fokus genommen werden sollen hier die Fälle der dritten Kategorie. Zu diesen sagt die Richtlinie … nichts.
Der Gesetzgeber geht davon aus, dass Labels, Verlage und Studios nur solche Inhalte als Referenzdateien hinterlegen, die ihnen auch gehören. An eine „unrechtmäßige Schutzrechtsberühmung“, international auch bekannt als Copyfraud, knüpft das Urheberrecht keine Konsequenzen. (Lediglich zwischen Wettbewerber*innen kann so eine Schutzrechtsberühmung als irreführende und damit unlautere Handlung angesehen werden, siehe Paragraph 5 im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, UWG.
Das war bisher, bevor es Uploadfilter gab, auch nicht nötig. Wer Urheberrechte oder Leistungsschutzrechte durchsetzen wollte, musste erst einmal nachweisen, dass diese existieren und ihm oder ihr zustehen.
Gewiss konnte eine Abmahnung auch dann abschreckend wirken, wenn sie unberechtigt war. In den USA kassierte beispielsweise der Musikverlag Warner/Chapell jahrzehntelang Tantiemen für das Lied „Happy Birthday“, bis dessen Gemeinfreiheit endlich gerichtlich festgestellt wurde. (Wer sich schon einmal gefragt hat, warum in US-amerikanischen Filmen und Serien so selten Happy Birthday gesungen wird, weiß es jetzt: Das war vielen einfach zu teuer.) Aber der Grundsatz war: Wer kein Urheberrecht hatte, konnte die Nutzung von Werken nicht kontrollieren.
Die Upload-Filter kehren diesen Grundsatz um. Sie geben auch angeblichen Rechteinhabern ein nie dagewesenes Level an Kontrolle. Gleichzeitig knüpft das Gesetz keine negativen Konsequenzen an eine unrechtmäßige Beanspruchung von Urheber- und Leistungschutzrechten. Deren „Bestrafung“ wird allein den Plattformen überlassen.
Plattformen als Schiedsgerichte
Für Konflikte über Content ID hält Youtube Mechanismen bereit. Wer ein Video hochlädt, das beanspruchte Inhalte enthält, wird darüber informiert. Das Video wird dann entweder gesperrt, vom Inhaber der Referenzdatei monetarisiert oder nur beobachtet.
Wer der Ansicht ist, der Anspruch (Claim) an einem Video – oder häufiger: Teilen davon – sei unrechtmäßig, kann Einspruch einlegen. Daraufhin kann der angebliche Rechteinhaber seinen Claim zurückziehen. Reagiert er nicht, wird der Claim nach 30 Tagen von dem Video entfernt. Der – echte oder angebliche – Rechteinhaber kann den Claim aber auch beibehalten oder – und das ist für Nutzer*innen gefährlich – aufgrund des Einspruchs das Video sperren lassen. Dann erhält der*die Nutzer*in eine sogenannte Urheberrechtsverwarnung. Wer binnen 90 Tagen drei solcher Verwarnungen sammelt, deren/dessen Konto wird gesperrt und alle ihre/seine Kanäle und Videos werden gelöscht. Insbesondere unabhängige Vlogger*innen, die über Youtube Geld verdienen, werden es sich zweimal überlegen, ob sie Verwarnungen und Rausschmiss durch Youtube riskieren wollen. Viele werden lieber den Claim bestehen lassen oder auf die Nutzung des beanspruchten Inhalts verzichten, selbst wenn sie von der Rechtmäßigkeit ihrer Nutzung überzeugt sind. Der Zensur sind so Tür und Tor geöffnet.
Wer als gewöhnliche*r Nutzer*in mehrfach Urheberrechte verletzt, wird also hart bestraft. Anders sieht es für Unternehmen aus, die unrechtmäßig fremde oder gemeinfreie Inhalte beanspruchen. Dazu heißt es auf Youtube: „Wenn Rechteinhaber wiederholt ungerechtfertigte Ansprüche erheben, kann ihr Zugriff auf Content ID deaktiviert und ihre Partnerschaft mit Youtube beendet werden.”
Anders als bei angeblichen Urheberrechtsverletzer*innen folgt die Strafe für „Copyfraud“ beziehungsweise „Overclaiming“ also nicht automatisch, sondern liegt im Ermessen von Youtube. Und niemand kann ernsthaft glauben, dass Youtube ein Major Label oder Major Studio jemals von seiner Plattform verbannen würde.
Overclaiming aus Faulheit
Dabei ist Overclaiming nicht selten. Das liegt auch daran, dass die großen Unternehmen sich oft nicht die Mühe machen, ihre Referenzdateien von Inhalten zu bereinigen, die ihnen nicht gehören.
So kam es beispielsweise dazu, dass gemeinfreies Videomaterial der NASA von fünf verschiedenen US-amerikanischen Fernsehsendern beansprucht wurde. Diese hatten über die Mars-Mission berichtet und die eigene Berichterstattung vollständig als Referenzdatei hinterlegt, einschließlich der gemeinfreien Inhalte. (Ähnlich erging es dem Mueller-Report auf der Plattform Scribd wegen deren Filter BookID.)
Damit verstießen die Sender gegen Youtubes Richtlinien, welche festlegen, dass Content-ID-Nutzer nur solche Inhalte als Referenzdateien hochladen dürfen, für die sie Inhaber ausschließlicher Rechte sind. Die Plattform hält auch einfache Mechanismen bereit, um fremde Inhalte von den eigenen Referenzdateien auszunehmen.
Viele Rechteinhaber tun das jedoch nicht. Nachdem die Gruppe Pinkstinks beim deutschen Fernsehsender RTL zu Gast war, wo sie ihren Song „Not Heidi’s Girl“ aufführte, wurde kurz darauf ihr eigenes Musik-Video gesperrt, weil der Song angeblich RTL gehöre. Erst aufgrund eines Einspruchs wurde das Video wiederhergestellt. Bezeichnend ist die Begründung, welche die Gruppe nach eigenen Aussagen von RTL bekam:
„Ein Sprecher des Fernsehsenders habe […] erklärt, dass so etwas ständig vorkomme und sich nicht verhindern lasse, da man sonst Opfer von Piraterie werde.”
Das ist falsch. Solche Claims lassen sich sehr wohl verhindern. Die Rechteinhaber sind nur zu faul, ihre Referenzdateien vernünftig zu konfigurieren. Denn diese Konfiguration kostet Zeit und Geld, die sie gerne sparen, wenn sie dadurch keine Nachteile zu befürchten haben. Solange es für die Rechteinhaber teurer ist, ihre Referenzdateien von fremden Inhalten zu bereinigen, als wildes Overclaiming zu betreiben und sich nur einzuschränken, wenn sich jemand beschwert, setzt die Rechtslage Anreize für Overclaiming, nicht dagegen. Dass die Rechteinhaber mit den fremden Inhalten womöglich auch noch Geld verdienen, ist hier noch nicht einmal thematisiert.
Ausblick
Zwei Entscheidungen des Landgerichts Frankfurt aus der jüngeren Vergangenheit geben etwas Anlass zur Hoffnung. Im ersten Fall hatte ein Major Label den Song eines kleinen Konkurrenten beansprucht und als eigenen ausgegeben. Der Konkurrent ließ den Content-ID-Claim per einstweiliger Verfügung untersagen.
Im zweiten Fall hatte ein Major Label für ein Musikstück eine nicht-ausschließliche Lizenz erworben und dieses Stück in einem eigenen Werk verwendet. Obwohl dies – wie gesagt – gegen Youtubes Nutzungsbedingungen verstößt, weil Rechteinhaber nur solche Inhalte beanspruchen dürfen, für die sie ausschließliche Rechte haben, lud das Label das gesamte Werk als Referenzdatei hoch. Andere Lizenznehmer*innen des Komponisten nutzten das Stück ebenfalls auf Youtube und mussten sich plötzlich mit einem fremden Claim herumschlagen. Auch diese Beanspruchung wurde per einstweiliger Verfügung untersagt; das Widerspruchsverfahren läuft.
[Update 28. August 2019: In der mündlichen Verhandlung am vergangenen Mittwoch hat Universal auf Anraten des Gerichts den Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung zurückgenommen und die Entscheidung als endgültig akzeptiert.]
Die neue EU-Urheberrechtsrichtlinie soll ausdrücklich den herkömmlichen Rechtsweg der Nutzer*innen nicht einschränken. Das Landgericht Frankfurt hat gezeigt, dass dieser Rechtsweg funktionieren kann. Beide Entscheidungen beruhen aber darauf, dass hier das Recht der tatsächlichen Urheber verletzt wurde. Das hilft wenig weiter, wenn die beanspruchten Inhalte überhaupt nicht urheberrechtlich geschützt sind, zum Beispiel weil das Urheberrecht abgelaufen ist oder es sich um genuin gemeinfreie Inhalte handelt.
Ein Fall, in dem Nutzer*innen wegen solcher Claims vor Gericht gezogen sind, ist mir nicht bekannt. Angesichts der immensen Kontrolle, welche Filtersysteme den (angeblichen) Rechteinhabern an die Hand geben, ist es der Allgemeinheit aber auch nicht zumutbar, dass die gesamte Last einer gerichtlichen Überprüfung auf den Schultern der Nutzer*innen liegt.
Bei der Umsetzung der EU-Richtlinie sollte vielmehr – zum ersten Mal in der Geschichte des Urheberrechts – die Beanspruchung sowohl fremder als auch gemeinfreier Inhalte in Filtersystemen ausdrücklich verboten werden. Und an Verstöße gegen dieses Verbot gehören Strafen geknüpft, die Labels, Verlage, Studios und Sender mehr Zeit und Geld kosten als die korrekte Konfiguration ihrer Referenzdateien.
TL;DR: Upload-Filter setzen Anreize für Copyfraud. Das sollte verhindert werden.
Offenlegung: Marion Goller arbeitet als Anwältin bei der „Media Kanzlei Frankfurt“, welche die beiden erwähnten einstweiligen Verfügungen erwirkt hat.
1 Kommentar
1 Rainbird am 2. Oktober, 2021 um 18:51
Hallo,
also wenn ich jetzt ein Video auf Youtube hochlade und einen Content ID Einspruch erhalte und das Video nicht lösche, muss ich dann mit einer Abmahnung oder Geldstrafe rechnen?
Was sagen Sie dazu?