Autoren aller Länder, plagiiert euch!
Kommt uns das nicht bekannt vor? Ein kultivierter Mann mittleren Alters erzählt die Geschichte eines Amour fou. Sie beginnt damit, dass er ins Ausland reist, wo er sich in einer Pension einmietet. Als sein Blick die Tochter des Hauses trifft, ist es um ihn geschehen. Sie ist ein blutjunges Mädchen, dessen Reizen er augenblicklich verfällt. Ungeachtet ihres zarten Alters hat er eine intime Beziehung mit ihr. Am Ende stirbt sie, und der Erzähler bleibt, für immer von ihr gezeichnet, allein zurück. Der Name des Mädchens gibt der Geschichte zugleich den Titel: Lolita.
Der Autor Heinz von Lichberg veröffentlichte seine Lolita-Erzählung im Jahr 1916, 40 Jahre vor Vladimir Nabokovs Roman. In der Nazi-Zeit wurde Lichberg ein prominenter Journalist, seine Jugendwerke verschwanden aus dem Blickfeld. Hat Nabokov, der bis 1937 in Berlin lebte, Lichbergs Geschichte bewusst übernommen? Oder existierte die frühere Erzählung für Nabokov als verborgene, nicht bewusste Erinnerung? Für dieses Phänomen, die Kryptomnesie, gibt es in der Literatur Beispiele. Eine andere Hypothese würde lauten: Nabokov hat Lichbergs Erzählung sehr wohl gekannt und sich in jener Kunst des Zitierens geübt, die Thomas Mann, selbst ein Meister darin, als „höheres Abschreiben “ bezeichnete. Literatur war schon immer ein großer Tiegel, in dem alte Motive fortwährend umgeschmolzen wurden. Nichts von dem, was wir an dem Roman Lolitabewundern, ist schon in der Vorgänger-Erzählung zu finden; jener ist aus dieser in keiner Weise abzuleiten. Und dennoch: Hat Nabokov bewusst entlehnt und zitiert?
Liebe und Diebstahl
„Wenn du jenseits des Gesetzes lebst, darfst du nicht unehrlich sein.“ Dieser Satz findet sich in Don Siegels Film noir The Lineupaus dem Jahr 1958, nach einem Drehbuch von Stirling Silliphant. Der Film taucht immer noch gelegentlich in Filmmuseen und Art-Kinos auf, wohl dank Eli Wallachs glänzender Studie eines soziopathischen Killers und dank Siegels langer und standhafter Karriere als Autorenfilmer. Welchen Wert hatten diese Worte im Jahr 1958 – für Siegel, für Silliphant oder für das Publikum? Und welchen Wert hatten sie, als Bob Dylan sie hörte (vermutlich in irgendeinem Nachspielkino in Greenwich Village), ein bisschen aufputzte und in „Absolutely Sweet Marie“ einbaute? Und welchen Wert haben sie heute, für die Kultur im Allgemeinen?
Dylans Kunst hat ja eine paradoxe Seite: Einerseits fordert sie uns auf – „Don’t look back“ –, nicht zurückzuschauen. Andererseits enthält sie ein verschlüsseltes Wissen über historische Quellen, die sonst kaum einen Platz in der Gegenwartskultur finden würden: So wird etwa die Bürgerkriegslyrik des Südstaaten-Barden Henry Timrod in den Songs auf Dylans jüngster CD, Modern Times,wiederbelebt.
Eine Kultur der „offenen Quellen“
Dasselbe gilt für die Kunst generell. Vor allem die Literatur wird ja seit langem geplündert und fragmentiert. Als ich 13 war, kaufte ich mir eine Anthologie mit Texten von Beat-Autoren. Darin entdeckte ich einen gewissen William S. Burroughs, der mich sofort in große Aufregung versetzte. Er war der Autor von etwas, das sich Naked Lunchnannte: Der Band enthielt ein Exzerpt davon, in all seiner funkelnden Brillanz.
Burroughs war damals einer der radikalsten Schriftsteller, die die Welt zu bieten hatte. Bei all meiner literarischen Erfahrung seither hatte niemand eine tiefere Wirkung auf mein Verständnis für die Möglichkeiten des Schreibens. Als ich diesen Eindruck später zu analysieren versuchte, entdeckte ich, dass Burroughs Schnipsel aus Texten anderer Autoren seinem Werk einverleibt hatte – eine Vorgehensweise, die meine Lehrer, wie ich wusste, Plagiat nennen würden.
Einige dieser Anleihen waren der amerikanischen Science-Fiction der vierziger und fünfziger Jahre entnommen, was bei mir einen zweiten Erkenntnis- Schock auslöste. Damals wusste ich bereits, dass diese „Cut-up“-Methode, wie Burroughs das nannte, für seine Arbeitsweise zentral war: Er glaubte buchstäblich, dass sie an Magie grenzte. Wenn er diesen Prozess beschrieb, standen mir die Haare zu Berge, so spürbar war meine Aufregung. Burroughs unterzog das Universum einem Verhör, mit Schere und Klebstoff: Kein Autor imitierte andere weniger als er; Burroughs war kein Plagiator.
Blues- und Jazz-Musiker bewegen sich seit langem in einer Kultur der „offenen Quellen“: Bereits existierende melodische Fragmente und auch größere musikalische Strukturen werden frei überarbeitet. Die technische Entwicklung hat die Möglichkeiten dazu erst recht vervielfacht; Musiker können heute Klänge buchstäblich duplizieren, statt sie wie bisher bloß annähernd anzuspielen. Im Jamaika der siebziger Jahre dekonstruierten King Tubby und Lee „Scratch“ Perry Musikaufnahmen mittels erstaunlich primitiver vor-digitaler Hardware und schufen ihre eigenen sogenannten „Versionen“. Rasch wurde diese Methode der Neukombination als Produktionsweise von DJs in New York und London übernommen. Und heute erzeugt ein endloser, herrlich unreiner, sozialer Prozess zahllose Stunden neuer Musik.
Die Collage ist die Kunstform des Jahrhunderts
Die Collage von visuellen, von Ton- und Textmaterialien stand bei vielen Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt: beim Futurismus und Kubismus, bei Dada, Musique concrète, Situationismus oder Pop-Art. Die Collage ist der gemeinsame Nenner all dieser Bewegungen: Man kann sie die Kunstform des 20. Jahrhunderts nennen, vom 21. ganz zu schweigen. Es wird immer deutlicher, dass Aneignung, Mimikry, Zitat, Anspielung und sublimierte Kollaboration heute unabdingbar zum schöpferischen Akt dazugehören, und zwar quer durch alle Formen und Genres im Bereich kultureller Produktion.
Die meisten Künstler werden sich ihrer Berufung bewusst, sobald ihre eigenen Talente von einem Meisterwerk erweckt werden. Das heißt: Die meisten Künstler werden durch Kunst zur Kunst bekehrt. Inspiration lässt sich definieren als das Inhalieren der Erinnerung an etwas, das man nicht selber erlebt hat. Man muss bescheiden einräumen, dass Erfindung keine Schöpfung aus dem Nichts ist, sondern aus dem Chaos hervorgeht. Das sind Wahrheiten, die jeder Künstler kennt, wie tief auch immer er dieses Wissen verdrängt.
Umgeben von einem Chaos der Zeichen
Heute können wir Tex-Mex mit Stäbchen essen, dabei Reggae-Musik hören und auf einem YouTube-Video wieder einmal den Fall der Berliner Mauer anschauen. Buchstäblich alles stellt sich heute als bekannt dar. Deshalb ist es nicht überraschend, dass gerade die ehrgeizigste Kunst von heute es sich zur Aufgabe macht, das Bekannte zu verfremden. Solche künstlerische Aneignung der Medien-Umwelt, in der wir schwimmen, mag den Vorwurf der Geschmacklosigkeit auf sich ziehen und sogar das Urheberrecht an Markenartikeln verletzen; aber die Alternative – sich zu drücken und sich in einen Elfenbeinturm der Irrelevanz zu verziehen – ist noch viel schlimmer. Wir sind von Zeichen umgeben; für uns gilt das Gebot, keines von ihnen zu ignorieren.
Ein Bollwerk gegen Plagiat und Piraterie
Heute herrscht die Überzeugung, dass Kultur Besitz ist, intellektuelles Eigentum. Die meisten etablierten Schriftsteller und Künstler verehren das Copyright als ihr Geburtsrecht und Bollwerk, als den Nährboden für ihre unendlich fragilen Praktiken in einer raubgierigen Welt. Plagiat und Piraterie sind die Ungeheuer, die der heute arbeitende Künstler angeblich zu fürchten hat – Monster, die im Wald lauern, der unsere winzigen Gehege von Anerkennung und Vergütung umschließt.
Ein Zeitalter ist weniger gekennzeichnet durch Ideen, die erörtert werden, als vielmehr durch Ideen, die stillschweigend als selbstverständlich vorausgesetzt werden. An dem, was keine Verteidigung nötig hat, hängt die Epoche. So gesehen, werden nur wenige das zeitgenössische Konstrukt des Urheberrechts infrage stellen. Es wird als Gesetz erachtet – im Sinne eines universell anerkannten moralischen Absolutums, wie etwa das Gesetz gegen Mord, und im Sinne eines Naturgesetzes, wie das Gesetz der Schwerkraft. Tatsächlich aber ist das Copyright weder das eine noch das andere. Es ist viel eher Gegenstand anhaltender sozialer Verhandlungen, unentwegt wird an ihm weitergesponnen, es wird unendlich revidiert und ist doch in jeder Inkarnation unvollkommen.
Thomas Jefferson betrachtete das Urheberrecht seinerzeit als notwendiges Übel: Es sollte gerade eben ausreichen, um Anreize für schöpferische Tätigkeit zu ermöglichen, aber nicht mehr; danach sollten die Ideen so frei fließen dürfen, wie die Natur es vorsah. Sein Copyright-Konzept ging in die Verfassung ein. Diese räumt dem Kongress die Autorität ein, „den Fortschritt der Wissenschaft und der angewandten Künste zu fördern, indem Autoren und Erfindern für einen begrenzten Zeitraum das exklusive Recht an ihren jeweiligen Werken und Entdeckungen zugesichert wird“. Dies stellt einen Balanceakt dar zwischen den Urhebern und der Gesamtgesellschaft; Späterkommende mögen weit mehr und Besseres mit einer ursprünglichen Idee anzufangen wissen als der Urheber selbst.
Aufgebläht und restriktiv – das Urheberrecht
Aber Jeffersons Vision hat nicht gut überdauert; sie wurde immer wieder von jenen ausgehöhlt, die Kultur als einen Markt betrachten, auf dem alles, was Wert besitzt, irgendjemandes Eigentum sein sollte. Was das moderne amerikanische Copyright am meisten kennzeichnet, ist seine fast unendliche Aufblähung – es expandiert im Umfang und in der Dauer. Auch ohne besondere Registrierung unterliegt heute jeder kreative Akt in einem Medium dem Urheberrechtsschutz: jede E-Mail an das eigene Kind, jede Kinderzeichnung in Fingerfarben – alles wird automatisch geschützt. Ursprünglich umfasste das Copyright 14 Jahre, verlängerbar um weitere 14 Jahre, sofern der Urheber noch am Leben war. Heute gilt für das Copyright die Lebenszeit des Autors plus 70 Jahre.
Das Urheberrecht wird zunehmend restriktiver. Zugleich aber entlarvt der technische Fortschritt diese Restriktionen als bizarr und willkürlich. In unserer Welt kann man den Akt des „Kopierens“ nicht mehr als Verstoß gegen das Copyright betrachten – jedes Mal, wenn wir einen Text per E-Mail empfangen oder versenden, machen wir eine Kopie. Heutzutage ist es unmöglich, das Kopieren zu regulieren oder auch nur zu definieren. Das Copyright ist kein „Recht“ im absoluten Sinn. Es ist ein von der Regierung garantiertes Benutzer-Monopol an kreativen Arbeitsergebnissen. Also sollten wir es auch so nennen: Benutzer-Monopol. Und dann sollten wir darüber nachdenken, dass die raubgierige Erweiterung monopolistischer Rechte dem öffentlichen Interesse stets zuwidergelaufen ist – egal, ob Andrew Carnegie den Stahlpreis kontrollierte oder ob Walt Disney die Geschicke seiner Maus dirigierte. Egal, ob der Nutznießer eines Monopols ein lebender Künstler ist oder dessen Erben oder die Shareholder eines Unternehmens: Der Verlierer ist immer die Gesellschaft.
„Disnial“, die Quellen-Heuchelei
Erstaunlich umfangreich ist der Katalog jener Werke, aus denen sich die Walt Disney Company bedient hat: Schneewittchen und die sieben Zwerge, Pinocchio, Bambi, Aschenputtel, Alice im Wunderland, Peter Pan, Dornröschen, Dschungelbuch. Dieses exzessive Kultur-Sampling stellt sogar Shakespeare in den Schatten. Gleichzeitig aber wird der daraus entstandene Kultur-Schatz von der protektionistischen Disney-Lobby so sorgfältig bewacht wie Fort Knox. So werden beispielsweise dem Künstler Dennis Oppenheim rechtliche Schritte angedroht, weil er in einer seiner Skulpturen Disney-Figuren verwendet hat. Auf diese Weise soll das Allgemeingut Kultur zum alleinigen Nutzen eines Eigentümers oder eines Unternehmens eingeschränkt werden.
Diese merkwürdige Vorgehensweise erinnert stark an das sogenannte „imperiale Plagiieren“ – den freien Gebrauch, den privilegierte und besser bezahlte Künstler von „primitiven“ Kunstwerken und Stilen der Dritten Welt machen. Man denke nur an Picassos Les Demoiselles d’Avignon oder an das eine oder andere Album von Paul Simon oder David Byrne: Diese Künstler sind auf gewisse Skepsis gestoßen, als herauskam, in welchem Ausmaß sie Outsourcing betrieben hatten.
„Wenn du jenseits des Gesetzes lebst, darfst du nicht unehrlich sein.“ Vielleicht war es das, was David Byrne und Brian Eno veranlasste, eine „Remix“- Website ins Netz zu stellen, von der sich jedermann Versionen zweier Songs aus My Life in the Bush of Ghostsherunterladen kann, einem Album, das sich auf Alltagssprache stützt, die aus vielerlei Quellen gesampelt ist. Vielleicht hilft das auch zu erklären, weshalb Bob Dylan keine Bitte um Samples ablehnt.
Für viele Künstler bedeutet der Schöpfungsakt, mit napoleonischer Geste die eigene Einzigartigkeit dem Universum aufzudrücken: Nach mir die Sintflut der elenden Kopisten! Und hinter jedem James Joyce, Woody Guthrie oder Walt Disney, der seinem Werk eine Fülle von Stimmen einverleibt hat, steht ein Unternehmen oder eine Nachlass-Verwaltung, einzig darauf erpicht, die Flasche zuzustöpseln: Kulturelle Anleihen strömen herein, aber nicht hinaus. Diesen Trend könnte man „Quellen-Heuchelei“ nennen. Man könnte ihn auch nach den bösartigsten Quellen-Heuchlern aller Zeiten benennen: „Disnial“.
Das Gespenst in der Kommunikationsmaschine
Mag sein, dass der Leser jetzt so weit ist, „Kommunist!“ zu rufen. Eine große und heterogene Gesellschaft kann ohne Eigentum, auch ohne intellektuelles Eigentum in irgendeiner Form, nicht gedeihen und nicht überleben. Aber wenn man ein bisschen nachdenkt, wird man begreifen, dass es ein weites Feld von Werten gibt, die der Begriff „Eigentum“ nicht abdeckt. Und Kunstwerke existieren simultan in zwei Ökonomien: der Markt-Ökonomie und der Geschenk-Ökonomie.
Der kardinale Unterschied zwischen Geschenk und Warenaustausch liegt darin, dass ein Geschenk eine Gefühlsverbindung zwischen zwei Menschen herstellt, der Verkauf einer Ware aber nicht. Ein Geschenk schafft eine Beziehung. Und doch scheint es schwer verständlich, dass die Geschenk-Ökonomie so natürlich mit dem Markt koexistiert. Diese Doppel-Existenz kultureller Praktiken müssen wir erkennen und anerkennen und in unser Leben als Kultur-Teilnehmer integrieren, sei es als Produzenten oder als Konsumenten. Wie ein Geschenk empfangen wir Kunst, die etwas bedeutet – Kunst, die das Herz bewegt, die Seele belebt, die Sinne erquickt, Lebensmut gibt, oder wie auch immer wir diese Erfahrung beschreiben wollen. Selbst wenn wir fürs Museum oder den Konzertsaal Eintritt bezahlt haben, wird uns doch, wenn wir von Kunst berührt werden, etwas zuteil, das mit dem Eintrittspreis nichts zu tun hat. Empiriker unserer Markt- Kultur finden es schwierig, diese Macht der Geschenk-Ökonomie zu begreifen, die wie ein Gespenst in der Kommerzmaschine haust.
Wir Bewohner der westlichen Welt leben in einer Zeit verstärkten Glaubens an das Privateigentum, sehr zum Nachteil des öffentlichen Wohls. Deshalb ist ständige Wachsamkeit vonnöten, um Übergriffe jener zu verhindern, die selbstsüchtig unser gemeinsames Erbe für ihren privaten Nutzen ausbeuten möchten. Solche Beutezüge in unseren natürlichen und kulturellen Ressourcen dürfen wir nicht als Beispiele für Unternehmergeist und Eigeninitiative durchgehen lassen. Sie sind vielmehr Versuche, das, was allen gehört, zum Nutzen einiger weniger zu vereinnahmen.
Originalität ist nicht so wichtig
Es ist an der Zeit, die extremen Originalitätsansprüche infrage zu stellen, die in Presse-Aussendungen und in der Verlagswerbung so gerne aufgestellt werden. Ist ein intellektuelles oder kreatives Angebot wirklich neuartig – oder haben wir nur den ehrenwerten Vorläufer vergessen? Verlangt unsere Gier nach Schöpferkraft wirklich eine gewalttätige Avantgarde mit ihren langweiligen Vatermord- Geboten – oder wären wir nicht besser dran mit der Anerkennung von Einflusslust? Sollten wir nicht lieber bereit sein, unser Verständnis für die Landläufigkeit und Zeitlosigkeit der Methoden und Motive zu vertiefen, die Künstlern zur Verfügung stehen?
Stellen wir zum Schluss ein paar Behauptungen auf
Jeder Text, der das kollektive Gedächtnis so stark infiltriert hat wie Vom Winde verweht, Lolitaoder Ulysses geht unfehlbar in die kulturelle Sprache ein. Er ist wie eine Landkarte, die sich in Landschaft verwandelt: Er nimmt einen Platz ein, der für Einschränkung oder Kontrolle nicht mehr erreichbar ist. Die Autoren und deren Erben sollten die darauf folgenden Parodien, Zitate, Verballhornungen oder Revisionen als eine Ehre ansehen – oder wenigstens als Preis eines singulären Erfolgs. Einen ähnlichen Preis sollte ein Konzern zahlen, der dem kulturellen Wortschatz einen allgegenwärtigen Begriff – Mickymaus, Band-Aid – aufgedrückt hat.
Der Hauptzweck des Copyrights liegt nicht darin, Autoren für ihre Mühe zu entschädigen, sondern darin, „den Fortschritt der Wissenschaft und der angewandten Künste zu fördern“. Deshalb sichert das Copyright Autoren das Recht auf ihren ursprünglichen Ausdruck zu, ermutigt aber andere, auf den in einem Werk entwickelten Ideen und Informationen frei aufzubauen. Das Ergebnis ist weder unfair noch fatal.
Das zeitgenössische Urheberrecht, das Markenartikel- und Patentrecht werden heute unterwandert. Wer für permanentes Copyright plädiert, leugnet den integralen Geschenk-Aspekt des Schöpfungsaktes. Sich dafür auszusprechen, wäre so unamerikanisch wie die Aufhebung der Vermögenssteuer.
Kunst hat Quellen. Lehrlinge grasen auf dem Feld der Kultur.
Digitales Sampling ist eine Kunst-Technik wie jede andere auch, sie ist daher für sich genommen neutral.
Die Anspielung ist eine Möglichkeit, die moderne Welt für die Kunst zugänglich zu machen.
Trotz allem Händeringen bei jeder technischen Wende – Radio, Internet – wird die Zukunft der Vergangenheit sehr ähnlich sein. Künstler werden einige Dinge verkaufen, andere aber gratis hergeben. Die Veränderungen könnten jene beunruhigen, die sich nach weniger Zweideutigkeit sehnen, aber Sicherheit hat es doch im Leben eines Künstlers nie gegeben.
Der Traum von der vollkommenen, systematischen Vergütung ist Unsinn. Ich zahle meine Miete mit dem Gegenwert, den meine Worte erzielen, wenn sie in Hochglanz-Magazinen erscheinen, aber gleichzeitig biete ich sie verarmten literarischen Vierteljahresschriften fast gratis an und spreche sie in Radio-Interviews frei in die Luft. Was also sind meine Worte wert? Was wären sie wert, wenn irgendein künftiger Bob Dylan sie einem seiner Songs einverleibte? Soll ich mich darum kümmern, derlei zu verhindern?
Jeder Text ist vollkommen eingesponnen in Zitate, Bezüge, Echos und kulturelle Sprachen, die ihn in ein riesiges stereophones Gewebe einarbeiten. Die Zitate, die in einen Text eingehen und ihn miterzeugen, sind anonym, nicht nachweisbar und doch bereits gelesen; sie sind Zitate ohne Gänsefüßchen. Der Kern, die Seele – sagen wir ruhig: die Substanz, der tatsächliche werthaltige Stoff – allen menschlichen Ausdrucks ist das Plagiat. Denn im Grunde sind alle Ideen aus zweiter Hand; bewusst oder unbewusst speisen sie sich aus Millionen äußerer Quellen; und wer sie gespeichert hat, benützt diese Ideen täglich mit dem zufriedenen Stolz dessen, der in dem Aberglauben lebt, er habe sie selber hervorgebracht. Dabei haftet ihnen kein Fitzelchen Originalität an außer dem bisschen Verfärbung: Diese nehmen sie durch sein mentales und moralisches Temperament an, das sich in bestimmten charakteristischen Phrasen verrät. Alt und Neu bilden Kette und Schuss jedes Augenblicks. Es gibt kein Garn, das nicht aus diesen beiden Fäden gezwirbelt wäre. Wir alle zitieren – aus Notwendigkeit, aus Neigung, aus Vergnügen.
Künstler und Schriftsteller – wie auch deren Anwälte, Agenten und Gewerkschaften – verschreiben sich allzu oft impliziten Ansprüchen auf Originalität, die diese Wahrheiten verletzen. Und allzu oft verhalten wir uns wie Kleinkrämer und Erbsenzähler in unseren winzigen Ich-AGs, womit wir den Geschenk-Anteilen unserer privilegierten Rollen zuwiderhandeln. Menschen, die einen Teil ihres Reichtums als Geschenk behandeln, haben einen anderen Lebensstil. Wenn wir die Funktion der Geschenk-Ökonomie in unserer Kunst-Praxis entwerten und verdunkeln, dann verkehren wir unsere Werke in nichts als Werbeanzeigen ihrer selbst. Wir könnten uns damit trösten, dass sich hinter unserer permanenten Gier nach Nebenrechten auch ein heldenhafter Schlag gegen die raubgierigen Interessen der Konzerne verbirgt. Aber die Wahrheit ist: Wenn die Künstler in die eine Richtung ziehen und die Konzerne in die andere, dann ist der Verlierer die kollektive Fantasie, aus der wir uns doch ursprünglich alle nähren und deren Existenz als ultimativer Speicher für unsere Zuwendungen die ganze Mühe des Werks überhaupt erst rechtfertigt.
Als Romanschriftsteller bin ich wie ein Korken auf dem Ozean der Geschichte, wie ein Blatt an einem windigen Tag. Bald werde ich weggeweht sein. Aber jetzt bin ich dankbar, dass ich vom Schreiben leben kann. Daher muss ich darum bitten, dass Sie für einen begrenzten Zeitraum (im Sinne Thomas Jeffersons) meine kostbaren kleinen Benutzermonopole respektieren. Machen Sie bitte keine Raubdrucke von meinen Büchern; aber plündern Sie ruhig meine Visionen. Der Name des Spiels lautet: Alles hergeben. Willkommen, Leser, bei meinen Geschichten. Sie haben mir ohnehin nie gehört, aber ich habe sie Ihnen geschenkt. Wenn Sie Lust haben, sie anzunehmen, dann bedienen Sie sich. Meinen Segen haben Sie.
PS: Ich ist ein Anderer.
Dieser Essay enthält so manche Zeilen, die ich beim Schreiben gestohlen, verzerrt und neu zusammengestoppelt habe. Fast alle geklauten Sätze habe ich zumindest leicht revidiert – aus Platzgründen, um einen einheitlicheren Ton zu erzielen oder einfach, weil es mir so gepasst hat.
Jonathan lethem lebt als Schriftsteller in Brooklyn, New York. Für Motherless Brooklyn erhielt er den National Book Critics Circle Award 2000 und den Gold-Dagger-Literaturpreis, außerdem wurde das Buch von der American Library Association zum besten Buch des Jahres gewählt. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Friedrich Berlin Verlags. Erstveröffentlichung: Harper’s Magazine 2007. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Redaktion Literaturen.
Dieser Beitrag gehört zur Reihe „Copy.Right.Now! – Plädoyers für ein zukunftstaugliches Urheberrecht”, die auch als gedruckter Reader erschienen ist. Er steht unter der Creative-Commons-Lizenz BY-NC-ND.
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