Aussetzen von Impfstoffpatenten als Innovationskiller? Nicht so schnell!
Je länger die Corona-Pandemie andauert, desto drängender wird die Frage, ob Patentrechte während einer Pandemie ausgesetzt werden sollten. Bereits im ersten Jahr der Pandemie beantragten Indien und Südafrika in der Welthandelsorganisation (WTO) allgemein die Aussetzung von geistigen Eigentumsrechten auf Hilfsmittel gegen die Covid-19-Pandemie. Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen unterstützen dieses Anliegen seither, zuletzt auch anlässlich der neuen Omikron-Variante. Eine entsprechende Anpassung der diesbezüglichen WTO-Regeln scheitert allerdings bislang vor allem am Veto der EU. Die USA hingegen haben sich inzwischen offen dafür gezeigt.
Die Debatte um das Aussetzen von Patent- und anderen Immaterialgüterrechten dreht sich hauptsächlich um die Frage, ob eine solche Maßnahme die innovationsfördernde Wirkung von Patenten beeinträchtigen könnte. Unter Innovationen werden dabei im Bereich der Pharmaindustrie nicht nur neue Medikamente oder Impfstoffe, sondern auch neue Herstellungsverfahren oder neue Verabreichungsformen (zum Beispiel Tablette statt Spritze) verstanden. Patente sollen die dafür notwendigen Investitionen in Forschung und Entwicklung durch ein zeitlich begrenztes Monopolrecht schützen und gleichzeitig über eine Offenlegungspflicht patentiertes Wissen allgemein zugänglich machen.
Innovationshemmende Aspekte von Patenten
Diesen potenziell innovationsfördernden Aspekten von Patenten stehen jedoch auch innovationshemmende gegenüber. Die drei wichtigsten sind hier (1) die Erschwerung von rekombinatorischer (Folge-)Innovation, (2) strategisches Patentieren und (3) Patent-Trolle.
Der erste Punkt, die Behinderung von Innovationen, die auf vorhandenen Patenten aufbauen, wird vor allem unter dem Begriff der „Anticommons“ diskutiert. Ganz allgemein lassen sich darunter Nachteile von übermäßig starkem Schutz von Immaterialgüterrechten wie Urheber- oder Patentrecht fassen. Für den Bereich biomedizinischer Forschung haben Michael Heller und Rebecca Eisenberg bereits 1998 in einem vielbeachteten Aufsatz in Science beschrieben, wie sich verschiedene Patentinhaber wechselseitig blockieren und zu starke Patentrechte der Innovation im Weg stehen. Vor allem bei komplexeren, wechselseitig aufeinander angewiesenen Technologien oder bei Patenten auf Grundlagentechnologien können Kosten für Rechteklärung sowie für Lizenzierung Innovationen erschweren – sofern die Patentinhaber überhaupt zur Lizenzierung bereit sind.
Der zweite Punkt betrifft Patentportfolios, die nicht primär dem Schutz oder der Vermarktung eigener Erfindungen, sondern der Absicherung der eigenen Marktposition gegenüber möglichen Konkurrenten dienen. Vor allem große, marktführende Unternehmen praktizieren derart strategisches Patentieren, um Markteintrittsbarrieren zu errichten oder um sich mit eigenen Patenten gegen Patentklagen von Mitbewerbern zu wappnen. Vor allem für neue und kleinere Unternehmen sind Patentportfolios von etablierten Marktführern eine Gefahr: die bloße Klagedrohung eines großen Konzerns ist für kleine, innovative Startups schon existenzbedrohend, weil Investoren das Risiko von Rechtsstreitigkeiten scheuen.
Dass diese Gefahr nicht nur theoretisch existiert, lässt sich im Bereich von (ohnehin fragwürdigen) Softwarepatenten beobachten, die eine Gefahr für Unternehmen darstellen, die mit Open Source Software arbeiten. Denn freie und Open-Source-Software ist prinzipiell nicht patentierbar. Mit dem Open Invention Network wurde deshalb sogar eine eigene Organisation gegründet, die für Open-Source-Unternehmen potenziell gefährliche Patente aufkauft.
Patent-Trolle sind, drittens, Firmen, die selbst keine Innovationsziele verfolgen, sondern Patente nur erwerben, um diese durch Lizenzforderungen und Klagen wegen vermeintlicher Patentverletzung zu monetarisieren. Das Fazit einer aktuellen Studie zu solchen Patent-Trollen ist eindeutig, was die negativen Folgen für Innovationstätigkeit der attackierten Unternehmen betrifft: „We find … a real negative impact on innovation at targeted firms: firms substantially reduce their innovative activity after settling“.
Welche Folgen hat das Aussetzen von Patenten für die Pandemiebekämpfung?
Zusammengefasst ist es ist also nicht so, dass Patente per se innovationsfördernd sind. Welche Folgen Patente für Innovation haben, hängt vom Schutzniveau, der Technologie(komplexität), der Wettbewerbssituation und vielen weiteren Faktoren ab.
Dementsprechend stark gehen auch in der Patentforschung die Meinungen über deren Sinnhaftigkeit auseinander. Einerseits messen viele Studien im Bereich der Innovationsforschung die Innovativität eines Unternehmens näherungsweise über dessen Patentierungsaktivität und setzen Patente auf diese Weise quasi mit Innovation gleich. Andererseits gibt es neben der Problematisierung des „Patentdickichts“ oder den erwähnten Patent-Trollen auch fundamentale Kritik: Etwa jene der marktradikalen Ökonomen Michele Boldrin und David Levine, die in ihrem Buch „Against Intellectual Monopoly“ überhaupt die Abschaffung von Patenten fordern.
Was lässt sich aus dieser Analyse für die konkrete Frage ableiten, ob Patentrechte während einer Pandemie ausgesetzt werden sollten? Zunächst einmal, dass die Frage sich nicht durch allgemeine Verweise auf (vermeintlich) innovationsfördernde Wirkung von Patenten entscheiden lässt. Entscheidend ist vielmehr, welche Folgen die Aussetzung oder Aufrechterhaltung von Patenten und anderen Immaterialgüterrechten mit Bezug zu Covid19 in der akuten Pandemiesituation voraussichtlich haben. Auch hier lassen sich drei in der Debatte dominante Problemkreise identifizieren: (1) Kritik an der Wirksamkeit der Aussetzung von Patenten, (2) die potentielle Schwächung innovativer Dynamik, sowie (3) das Ausnutzen von patentfundierter Marktmacht.
Was die möglicherweise fehlende Wirksamkeit der Aussetzung betrifft, so beruht diese vor allem auf dem teilweise gezielt befeuerten Mythos, dass es im Globalen Süden nicht genügend Kompetenzen für Impfstofferzeugung geben würde. Schon alleine ein Blick nach Indien, dem drittgrößten Arzneimittelproduzenten der Welt, entlarvt diesen Mythos als falsch – und dürfte auch für die Herstellung von mRNA-Impfstoffen gelten.
Was die Gefahr für zukünftige Innovationen durch Verletzung des Investitionsschutzes betrifft, so wurden in den betroffenen Unternehmen Innovationsrisiken weitgehend entweder durch direkte Förderung oder garantierte Abnahmemengen staatlich abgefedert. Umgekehrt ließe sich sogar argumentieren, dass ein weitreichendes Aussetzen des Patentschutzes den Einstieg in die (Weiter-)Entwicklung von Impfstoffen und damit rekombinatorische Innovation erleichtern könnte. Für Innovationsdruck sorgt das Andauern der Pandemie schon von alleine.
Ganz abgesehen davon, dass Pharmafirmen auch nach Aussetzen des Patentschutzes gutes Geld mit Impfstoffen verdienen würden, wenn auch mit voraussichtlich geringeren, einer Pandemiesituation eher angemessenen, Margen. Denn mit dem Patentschutz einhergehende Marktmacht sorgt nicht nur für fragwürdige Preissteigerungen (siehe etwa hier), sondern ermöglicht den Herstellerfirmen auch Abnehmerländern restriktive Vertragsbedingungen zu diktieren. So verbot Pfizer, wie aus geleakten Verträgen hervorgeht, Ländern wie Brasilien, ungenutzte Impfdosen zu spenden oder selbst gespendete Impfdosen anzunehmen.
Fazit
Angesichts des ungebrochenen Innovations- und Zeitdrucks in einer absehbar fortdauernden, globalen Pandemie, stellt sich die Frage nach dem Aussetzen von Patenten und anderen Immaterialgüterrechten mit zunehmender Dringlichkeit.
Sowohl für die Produktion vorhandener als auch für die Entwicklung neuer, auf diesen aufbauenden Impfstoffen kann (zu starker) Patentschutz von Nachteil sein. Dass sich Patentinhaber mit aller Macht gegen ein Aussetzen stemmen, ist dabei nicht verwunderlich.
Gleichzeitig wären Hauptprofiteure ebenfalls Pharma-Unternehmen – und potenziell wir alle. Gibt es eine Garantie, dass ein Aussetzen von Patenten zu einer besseren und global ausgeglicheneren Versorgung mit Impfstoff führen wird? Natürlich nicht. Ist es einen Versuch wert? Ich würde sagen ja.
1 Kommentar
1 Simon Lohner am 17. Dezember, 2021 um 15:32
Vielen Dank für diesen sehr interessanten Beitrag! Die Tatsache, dass er frei zugänglich ist, reiht sich ja, wenn man geneigt ist, schon in Ihre Argumentation ein. Wäre er hinter Schutz- und Verwertungsinteressen dem Nicht-Zahlenden verborgen, der kollektive Nutzen wäre geschmälert.
Zumindest in Bezug auf die Debatte um die Corona-Impfstoffe, scheint mir die Fragestellung allerdings zu sehr vom Ende hergedacht. Hier geht es im Kern ja längst nicht mehr um die Entwicklung, sondern viel mehr um die Auswertung der Patente. Der Rückenwind für die Idee der Freigabe von Impfstoff-Patenten begründet sich zudem auf humanitären Aspekten und nicht auf einer Auseinandersetzung mit zukünftigen Innovationserfordernissen. Und selbst dieser Zuspruch, der inzwischen ja nicht mehr wegzureden ist, wäre wohl nicht derselbe, wenn wir an Tag 1 der Pandemie stünden und jegliche Forschungsarbeit erst noch zu incentivieren wäre.
Eine stärkere zeitliche Befristung des Patentschutzes oder eine gesetzliche Regelung zur Zwangslizenzierung wären doch als mildere Mittel zuerst in Erwägung zu ziehen, um die aktuellen Notwendigkeiten zu bedienen.
Was sagen Sie dazu?