ASCII für alle: Von Project Gutenberg bis heute
Wenn man die Geburtsstunde der digitalen Public Domain datieren wollte, würde man wohl auf den 4. Juli 1971 stoßen. An diesem Tag tippte der Student Michael Stern Hart die amerikanische Unabhängigkeitserklärung am Computer ab. Zuvor hatte er eine Ausgabe des Textes – es war ja Unabhängigkeitstag – geschenkt bekommen. Das Internet gab es noch nicht, aber einen Vorläufer: Über das Arpanet war Hart mit etwa hundert angeschlossenen Empfängern verbunden. Weil es die Rechenkapazitäten überfordert hätte, die Datei an alle Teilnehmer zu versenden, speicherte er sie auf einem Mainframe-Rechner der University of Illinois und verschickte einen Link. Sechs mal soll der Text dann heruntergeladen worden sein – so zumindest die Gründungslegende des „Project Gutenberg”. Urheberrechte musste Hart dabei nicht klären, als erstes amtliches Werk der USA wäre die Erklärung ohnehin frei von Rechten gewesen.
Verteiltes Digitalisieren
Gut 41 Jahre später gehört das Gutenberg-Projekt zu den wichtigsten Online-Archiven für gemeinfreie Werke. „E-Texte” nannte Hart die Dateien in 7-Bit-ASCII-Codierung. Das Nur-Text-Format ist den Machern – Michael Hart verstarb 2011 – bis heute heilig. Kein anderes Format garantiere, dass die Texte auf Dauer und mit nahezu jeder Technik lesbar blieben. Inzwischen gibt es die Werke auch in den üblichen E-Book-Formaten. Die ersten Jahrzehnte tippten Hart und seine Mitstreiter noch selbst; 1994 wurde das hundertste E-Book fertigestellt: Shakespeares sämtliche Werke. Heute kümmert sich vor allem ein Schwarm freiwilliger Helfer um die Digitalisierung. Über die Website „Distributed Proofreaders” koordinieren sich die Teilnehmer und teilen das Scannen der Originale, Texterkennung und Korrekturlesen unter sich auf. Gut 40.000 digitalisierte Dokumente – von Romanen über Zeitschriften bis zu Kochbüchern – zählte die Plattform im letzten Jahr. Getragen wird sie von einer Stiftung, durch Spenden finanziert.
Die Geschichte des „Project Gutenberg” und seiner Arbeitsweise lässt sich als Erfolgsgeschichte eines Modells lesen, das Harvard-Jurist Yochai Benkler „commons-based peer production” genannt hat – ein kollaborativer Schaffensprozess, der auf Gemeingütern aufbaut und sie zugleich zum Resultat hat. Benkler schrieb über diese Produktionsform: „Ihr zentrales Merkmal besteht darin, dass Individuen gemeinsam und mit Erfolg an großen Vorhaben arbeiten. Statt Börsenkursen oder dem Unternehmenskommando liegt ihr ein Bündel unterschiedlicher Motivationen und Anreize zugrunde”. Für das Gutenberg-Archiv stellte Hart das „Prinzip der geringsten Regulierung und Verwaltung” auf. Das Projekt soll eine Infrastruktur bereitstellen, ansonsten auf der Selbstorganisation der Teilnehmer gründen und sich zurückhalten.
Auf die Mitarbeit von Freiwilligen baut auch das 1996 gegründete Internet Archive. Es sammelt nicht allein gemeinfreie Werke, sondern alle möglichen digitalen Inhalte, zum Beispiel Webseiten. Größeren Schwung bekam das Projekt aber nicht allein durch die Crowd, sondern durch Zusammenarbeit mit klassischen Kulturinstitutionen: Bibliotheken zahlen eine Gebühr von etwa 30 Dollar pro Buch, um ihre Bestände zu digitalisieren. Das digitale Abbild können dann beide nutzen. Tausend Bücher pro Tag sollen es mittlerweile sein, die im Schnitt über die Scanner wandern. „Universaler Zugang zu sämtlichem Wissen” nennt Gründer Brewster Kahle seine Mission und spricht von einem „Alexandria 2.0”.
Technische Möglichkeiten, juristischer Hürdenlauf
Wer heute eine digitale Bibliothek von Alexandria errichten will, steht vor einer bemerkenswerten Ausgangslage: Was rein technisch vor ein paar Jahrzehnten undenkbar war, ist möglich. Die Online-Archive sind zwar selten auf dem neuesten Stand der Technik, aber die Probleme sind lösbar und die Macher erfinderisch. Das Gutenberg-Projekt verzichtet fast komplett auf digitale Bilddateien, die Textversionen brauchen nur wenig Ressourcen. Das Internet Archive experimentiert mit Filesharing-Torrents, über die die Speicherung der Datenmassen nebenbei auch auf die Nutzer verteilt wird. Die Hürden für Projekte sind vor allem rechtliche – obwohl es um gemeinfreie Werke geht. Drei der wichtigsten Probleme:
1. Die Rechteklärung:
Hinter einfachen Grundsätzen wie „Tod des Autors plus 70 Jahre“ verbirgt sich ein verzweigtes Geflecht aus nationalen Regelungen, Ausnahmen und Sonderbestimmungen. Hinzu kommen zusätzliche Schutzrechte etwa für Sammelwerke. Trotz vereinheitlichter Regeln gibt es rechtlich nach wie vor nicht die „eine” Public Domain. Allein in der EU sind es 27 Varianten, wie Christina Angelopoulos, Informationsrechtlerin an der Uni Amsterdam, in ihrem Aufsatz „The Myth of European Term Harmonization” feststellt. „Kultureinrichtungen folgen meist den Regelungen zur Schutzdauer in ihrem Land, Rechtssicherheit für Nutzer anderswo entsteht daraus nicht”, schreibt sie. Würden die Betreiber weltweit Rechtssicherheit vorraussetzen, stünde kaum ein Werk jemals online.
2. Längere Schutzfristen:
Von den 14 Jahren Schutzdauer im ersten US-Urheberrecht bis zur Verlängerung auf 70 Jahre im „Copyright Term Extension Act” von 1998 – die Laufzeit des Urheberrechts wurde stetig angehoben. In der Europäischen Union wird aktuell die Schutzfrist für Tonaufnahmen verlängert. Nach einer 2011 beschlossenen Richtlinie muss der Leistungsschutz von Tonträgerherstellern und ausübenden Künstlern – der neben dem eigentlichen Urheberrecht besteht – in den Mitgliedsstaaten nun auf 70 Jahre ab Veröffentlichung angehoben werden. Gemeinsam ist den Regelungen: Sie nützen vor allem den Verwertern, den Urhebern kaum, allenfalls wenigen Stars. Der Allgemeinheit werden kulturelle Güter entzogen, selbst wo niemand mehr die Werke verwertet.
3. Vermeintliche Schutzrechte:
Archive und andere Einrichtungen beanspruchen häufig eigene Rechte an den Werken in ihren (digitalen) Sammlungen und versuchen, weitere Nutzungen zu kontrollieren. Tatsächlich bleiben gemeinfreie Werke gemeinfrei, auch wenn sie digitalisiert werden. Jeder kann sie nach Belieben verwenden – nur, wo die Sammlung als ganzes oder „wesentliche Teile” davon betroffen sind, gibt es ein Recht des Herstellers. Das Problem betrifft nicht nur die klassischen Archive, sondern auch die digitalen: Auf den Seiten des deutschen Projekts Gutenberg-DE etwa – nicht zu verwechseln mit der US-Variante – ist der Hinweis zu lesen, die Texte könnten nur für „private Zwecke” kostenlos verwendet werden. Für weitere Nutzungen, etwa wenn Texte auf anderen Seiten oder sonstwie kommerziell angeboten werden, möchte die Betreiberfirma Hille & Partner eine Lizenzgebühr.
Der Jurist Jason Mazzone prägte den Begriff des „Copyfraud” (etwa: Urheberrechtsschwindel), um die Problematik von behaupteten Schutzrechten zu beschreiben. Die weitere Verbreitung und die Kreativität der Nutzer würden unnötig eingeschränkt, Missverständnisse über die Reichweite von Urheberrechten geschürt. Die Folge beschreibt er so: „Mit ausschweifenden Besitzansprüchen konfrontiert, wird geistiges Eigentum konservativ genutzt. Statt eine Klage zu riskieren, werden eigene kreative Projekte geändert oder ganz eingestellt“. Rechtliche Handhabe gegen solche behaupteten Schutzansprüche gibt es bislang nur wenig.
Leerstelle Public Domain
Man kann die Probleme der Online-Archive auf einen Aspekt zuspitzen: Eigentlich soll das Urheberrecht einem Ausgleich der Interessen dienen. Dass es zeitlich beschränkt ist, ist ein Ausdruck davon. In der Praxis wiegen die Eigentumsrechte stärker; die Public Domain bleibt eine Leerstelle, ein Fehlen von Rechten. Wo das Urheberrecht ausgeweitet wird, wird sie im Gegenzug geschwächt. „Es gibt unbestreitbar eine Spannung zwischen Urheberrechtssystem und Public Domain”, heißt es im Abschlussbericht des Communia-Projekts, einem europaweiten Forschungsnetzwerk zum Thema. „Diese Spannung ist unvermeidlich, sie ergibt sich aus der doppelten Funktion des Wissens als Ware und als gesellschaftlicher Kraft”. Um das Gewicht der Public Domain zu stärken, empfehlen die Communia-Autoren, sie zunächst überhaupt einmal positiv im Recht zu verankern, um sie aus dem Schatten der Eigentumsrechte zu heben. Ob das in nächster Zeit passieren wird, ist aber fraglich. Immerhin zeigten die ACTA-Proteste aber, dass selbst internationale Verträge übers Urheberrecht nicht in Stein gemeißelt sind.
Es bleibt bemerkenswert, dass das Gutenberg-Projekt, das Internet Archive und verwandte Projekte nicht nur bis heute im Netz stehen, sondern weiter wachsen. Wahrscheinlich braucht es dafür auch Menschen wie Brewster Kahle, die Sätze sagen wie: „Die vorige Generation hat einen Menschen auf den Mond geschickt, lass uns etwas wirklich Grandioses tun: Informationen im großen Umfang zugänglich machen”.
Zuerst erschienen in der Fabrikzeitung. Lizenz: CC BY-SA. Die aktuelle Ausgabe Nr. 288 widmet sich dem Thema Public Domain.
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