Zwischen Web 2.0 und digitaler Bohème
Internet und Computer haben sich in Produktion, Verwaltung und Kommunikation verbreitet. Kaum ein Unternehmen kommt noch ohne ein Internetangebot aus – und sei es nur eine Homepage, auf der es sich darstellt. In Deutschland werden kommerzielle Webangebote, wenn es sich nicht um Online-Shops wie Amazon handelt, meist noch über „analoge“ Geschäftszweige mitfinanziert. Beobachter erwarten aber, dass sich das ändert: Im Vorreiterland USA werfen Online-Portale vermehrt Profit ab, wie zum Bespiel der kommerzielle Erfolg des Blogverlags Gawker Media zeigt. Wirtschaftsexperten und Politiker hoffen, dass diese Entwicklung auch in Europa ankommt. Dass digitale Kommunikation in allen Lebens- und Arbeitsbereichen Eingang gefunden hat, bedeutet allerdings auch, dass es oft schwierig ist, eine spezifische Onlinebranche außerhalb der Produzenten und Betreiber der technischen Infrastruktur, wie Internet-Providern, Computerherstellern und Netzwerktechnikern, zu definieren.
Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi stellt jedenfalls (zusätzlich zum „Ratgeber Selbstständige“ und „Ratgeber Freie“) einen eigenen Ratgeber für „E-Lancer“ zur Verfügung. Darin werden die Fragen von Selbstständigen behandelt, „die ihr Geld am PC verdienen“ (so die Beschreibung auf der mediafon-Website). Konkret gemeint sind damit „Content-Manager, Datenbank-Administratoren, EDV-Beraterinnen, Info-Broker, Informatikerinnen, IT-Trainerinnen, Multimedia-Konzeptioner, Netzwerk-Manager, Online-Journalistinnen, Online-Tutoren, Programmierer, Screen-Designerinnen, Software-Entwickler, System-Analytikerinnen, Web-Designer“. Nicht alle diese Berufe wird man im Sinne des Urheberrechts als kreativ ansehen können, aber ein großer Teil wie die Content-Managerin, Online-Journalistin, Programmiererin oder Web-Designerin sind es.
Im Branchenverband der deutschen Internetwirtschaft ECO versammeln sich technische Dienstleister und Hartware-Hersteller genauso wie Contentanbieter. Im „Arbeitskreis Content“ des Verbandes, in dem „Texte ebenso wie auditive oder visuelle Medien berücksichtigt“ werden, „sollen künftig unter anderem Stellungnahmen für politische, gesellschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen erarbeitet werden“. Auch in weiteren Arbeitskreisen wie „Recht und Regulierung“ oder „Games“ werden Themen angesprochen, die in den Bereich der kreativen Arbeit fallen.
Im World Wide Web haben sich spezifische neue Inhaltsformen, z.B. Blogs, Video- und Fotoportale entwickelt. Das Branchenportait „Kreative Internetökonomien“ geht davon aus, dass im „Kulturraum Internet“ (so der Titel eines Forschungsprojekts des Wissenschaftszentrums Berlin von 1998) neue Formen kreativer Arbeit entstehen, die sich oft außerhalb der traditionellen Branchen bewegen bzw. bisher getrennte Arbeitsformen neu mischen und verbinden.
Im Vergleich mit der Aufbruchsstimmung vor zehn Jahren ist es ein wenig stiller geworden um das Internet als Medium ökonomischer Utopien; das bedeutet aber nicht, dass das Internet weniger wichtig geworden ist. Die Studie „Mediascope Europe 2007“ des Branchenverbands der pan-europäischen Online-Vermarkter EIAA (European Interactive Advertising Association), bei der die Internetnutzung in Europa untersucht wurde, zeigt, dass die Onlinenutzung in den letzten Jahren gestiegen ist, während Fernsehen stagniert – obwohl Europäer durchschnittlich immer noch mehr Fernsehen schauen als im Internet surfen. Das liegt, sagen die Verfasser, vor allem an daran, dass immer mehr Breitbandzugänge angeboten werden, über die Audio- und Videoinhalte angeboten werden. Vor allem jüngere Menschen in der Altersgruppe von 16 bis 24 Jahren sitzen lieber vor dem Rechner als vor dem Fernseher.
Wenn also damit zu rechnen ist, dass sich die Mediennutzung in den nächsten Jahren weiter in Richtung „Online“ verschiebt und immer mehr Kreative für und im Netz arbeiten, rücken diese neuen Arbeitsverhältnisse verstärkt ins Rampenlicht. Folgerichtig gibt es seit einiger Zeit die ersten Feuilleton-Debatten über die „digitale Bohème“ oder die „Generation Praktikum“. Holm Friebe und Sascha Lobo haben in ihrem Buch „Wir nennen es Arbeit“ eine neue gesellschaftliche Gruppe ausgerufen: die „digitale Bohème“. Empirische Beweise ihrer Existenz haben sie zwar (noch?) nicht erbracht, die lebhafte Rezeption in der Medienöffentlichkeit zeigt jedoch, dass sie einen Nerv getroffen haben. Lobo und Friebe schreiben, dass die digitale Bohème in der Nutzung von Internetkommunikation die Möglichkeit sieht, ein selbst bestimmtes Leben zu führen, frei von den Zwängen der Lohnarbeit. Dem gegenüber steht der Feuilletondiskurs der „Generation Praktikum“ (auch mit den Schlagwörtern „urbane Penner“ oder „Künstler als neues Prekariat“ beschrieben), der die wirtschaftliche Verunsicherung einer jungen Mittelschicht beschreibt, die nicht mehr auf die gesicherten Lebensentwürfe der Elterngeneration zurückgreifen kann.
Dieser Existenz des Kreativraums Internet im öffentlichen Diskurs stehen allerdings nur wenig empirische Zahlen und Analysen gegenüber. Im Branchenportrait werden daher existierende Quellen zusammengetragen und analysiert, Interviews mit wichtigen Akteuren der Branche geführt und Beschäftigungsformen, Arbeitsbedingungen und Möglichkeiten des Berufseinstiegs beschrieben. Um Überschneidungen mit den anderen Portraits im Projekt „Arbeit 2.0“ zu minimieren, liegt der Schwerpunkt auf den visuellen Formen von Web-Design und -Programmierung. Die Beschäftigungsformen reichen von selbstständigen Alleinunternehmern über angestellte Agenturarbeiter bis hin zu User Generated Content.
Quellen
Goetz Buchholz: Ratgeber E-Lancer
www.ratgeber-e-lancer.de/start.html
Verband der deutschen Internetwirtschaft e.V.
www.eco.de
„Internet… the Final Frontier: eine Ethnographie“, Abschlussbericht der Projektgruppe „Kulturraum Internet“, 1998
duplox.wzb.eu/endbericht/index.html
European Internet Advertising Association
www.eiaa.net
Website zum Buch „Wir nennen es Arbeit. Die digitale Boheme oder intelligentes Leben jenseits der Festanstellung“ von Holm Friebe und Sascha Lobo
www.wirnennenesarbeit.de
Mercedes Bunz: Meine Armut kotzt mich an, zitty vom 16.2.2006
online unter www.mercedes-bunz.de/texte/urbaner-penner (aufgerufen 18.09.2008)
Was sagen Sie dazu?