Sinfonieorchester mit digitalem Geschäftsmodell
Sie gelten als eines der besten Orchester der Welt – mancherorts, wie in Taipeh, werden sie sogar wie Popstars gefeiert. Regisseur Thomas Grube hat das in seinem Film „Trip to Asia“ festgehalten.
Im Jahr 2005 begleitete er die Berliner Philharmoniker auf einer Konzerttournee durch mehrere Großstädte Asiens. Das Konzert in Taipeh wurde über Leinwände live auf den Platz vor dem Konzertsaal übertragen, rund 30.000 Menschen kamen, um das Orchester spielen zu sehen.
„Das war für die Musikerinnen und Musiker ein ganz starkes Erlebnis, dass man ihnen auf diese Weise begegnet ist.“ Tobias Möller erzählt vom Gründungsmythos der „Digital Concert Hal“l, von der Zeit, als die erste Idee für eine Online-Plattform Gestalt annahm, auf der Inhalte der Berliner Philharmoniker zu finden sein sollten. Er ist Marketingchef der Berlin Phil Media GmbH, der Firma, die sich um die Vermarktung des Orchesters in Bild und Ton kümmert.
Orchester verwaltet und organisiert sich selbst
Seit mehr als 130 Jahren verwaltet und organisiert sich das Orchester erfolgreich selbst – was nicht nur bedeutet, dass die Musikerinnen und Musiker neben ihrer künstlerischen Arbeit auch Vorstandsposten und Chefsessel besetzen, sondern dass sie selbst ein großes Interesse daran haben, dass und wie sie vermarktet werden.
„Gerade diese Musikerinnen und Musiker“, sagt Tobias Möller, „und gerade weil sie so stark ins Mediengeschäft involviert sind, haben damals natürlich auch mitbekommen, wie sich die Musikbranche verändert. Dass die Sendeplätze für klassische Musik im Fernsehen immer weniger, und große Labels zurückhaltender werden, was die Veröffentlichung von Orchesterrepertoire auf CD angeht.“
Der Stand der Technik eröffnete die Option, sich im Internet neue Publikumskreise zu erschließen und zwar direkt, ohne Plattenfirmen und Fernsehgesellschaften als Mittler. Solo-Cellist Olaf Maninger, Medienvorstand der Stiftung Berliner Philharmoniker, war einer der ersten, der an ein erfolgreiches Geschäftsmodell für ein digitales Konzertportal glaubte. Er ist seit dem Launch der Digital Concert Hall auch einer der Geschäftsführer der Berlin Phil Media.
Technische Herausforderungen
Technische Vorbilder gab es im Jahr 2008 keine, „nicht einmal außerhalb der klassischen Musikwelt“, erinnert sich Tobias Möller. „Wir mussten sehr unserem eigenen Gefühl folgen.“
Vor dem Launch galt es, die eine oder andere Hürde zu überwinden: Neben der technischen Herausforderung, ein Videostudio in die denkmalgeschützte Philharmonie einzubauen – ein Tonstudio existierte bereits –, mussten vertragliche Übereinkünfte getroffen werden, mit exklusiv gebundenen Gastmusikerinnen und -musikern, mit den Labels, mit denen die Philharmoniker arbeiten.
Daneben stellte sich die Frage der Startkosten, die vom langjährigen Hauptsponsor des Orchesters, der Deutschen Bank, übernommen wurden. Auch die laufenden Kosten seien nicht zu unterschätzen, so Tobias Möller.
Neben Investitionen in die eigentliche Videoproduktion muss die Technik auf dem neuesten Stand gehalten werden. „Die Möglichkeiten, Internetvideos abzurufen, diversifizieren sich immer mehr“, die Entwicklungskosten erweisen sich also als ein ganz erheblicher Posten: So müssen etwa Apps programmiert und an die verschiedenen Betriebssysteme angepasst werden.
Wöchentliche Live-Übertragungen, Interviews, Fan-Material
Sieben Jahre nach dem Start des digitalen Konzertsaals zeigt dieser wöchentliche Live-Übertragungen von Konzerten, rund 40 pro Saison. Mittlerweile wurde auch ein umfangreiches digitales Archiv aufgebaut, durch den Erwerb von lizenzierten Fernsehaufzeichnungen mit Konzerten unter der Leitung von Herbert von Karajan oder Claudio Abbado.
Da tut sich ein digitales Füllhorn auf, das es ermöglicht, Veränderungen der Spielkultur im Verlauf von Jahrzehnten an einem einzigen Orchester zu beobachten. Daneben gibt es Filme zu sehen wie den eingangs erwähnten „Trip to Asia“ und Fan-Material wie Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern.
Funktionierendes Bezahlmodell für Online-Inhalte
Der Zugang zum Portal ist über Einzeltickets oder Abonnements möglich – auch hier hat das Modell der Philharmoniker Vorbildcharakter. Mit rund 22.000 zahlenden Nutzerinnen und Nutzern haben sie ein funktionierendes Bezahlmodell für Online-Inhalte etabliert. Das ist ein Zustand, von dem viele Internetmedien immer noch träumen.
Sieben ferngesteuerte HD-Kameras sind im Saal installiert. Sie ermöglichen sehr intime Einblicke in Mimik und Spielweise der Musikerinnen und Musiker. So nah heran kommt das Publikum einer herkömmlichen Konzertaufführung gewöhnlich nicht.
Online-Publikum via Kamera näher dran am Orchester
Das hat Vor- und Nachteile: Die Kameras erlauben neue Perspektiven auf einzelne Musikerinnen oder Musiker, die im Klangkörper des Gesamtensembles sonst nicht als Individuen wahrgenommen werden. Die Virtuosität und die harte Arbeit jedes Einzelnen an der Aufführung wird ganz anders erfahrbar. Das Internet-Publikum ist via Kamera näher dran am Orchester.
Andererseits wird auch jede Abweichung, jeder winzige Patzer registriert und im Internet sofort weltweit live verbreitet.
„Der Druck ist natürlich höher“, sagt Hornistin Sarah Willis, die von Beginn an eine starke Befürworterin der „Digital Concert Hall“ war, „einmal in der Woche sind wir online. Ob man live im Konzertsaal einen Ton verpasst oder live im Internet, das macht keinen Unterschied. Aber es hören viel mehr Leute zu.“
Das macht natürlich auch den Reiz aus, denn die Abweichung von der Perfektion ist der Moment, der eine Live-Aufzeichnung im Vergleich zu einer CD-Einspielung um so vieles interessanter macht, oder, wie Sarah Willis findet, „dass ein Musikstück eben jeden Tag anders klingen kann“. Gerade weil es Menschen sind, die diese Musik live produzieren, die mit all ihrer Persönlichkeit und ihren Emotionen auf der Bühne präsent sind.
Das scheint auch das Publikum digitaler Live-Übertragungen zu schätzen. Neben der Möglichkeit, die Konzerte im Internet zu verfolgen, finden an ausgewählten Terminen europaweit Übertragungen in Kinos statt.
Dieser Praxis bedienen sich auch andere Bühnen, zum Beispiel das Royal Opera House in London oder die Metropolitan Opera in New York. Eine konsequent bespielte Online-Plattform wie die Digital Concert Hall betreiben sie jedoch nicht.
Sich musikalisch im Kino entrücken lassen
Eine begeisterte Besucherin solcher Events ist die Berliner Fotografin Polly Fannlaf. Sie pilgert regelmäßig ins Kino Cubix am Alexanderplatz, um sich für ein paar Stunden musikalisch von der Oper entrücken zu lassen.
„Für mich wird durch die neue Qualität der Aufnahmen der physische und psychische Kraftakt der Aufführung erfahrbar. Mich fasziniert es, daran Teil zu haben, ohne selbst Teil dieser Anstrengung zu werden – in einem bequemen Kinositz mit verstellbarer Rückenlehne.“ Das hat durchaus voyeuristische Qualitäten.
Während Besucherinnen und Besucher eines Konzerts oder einer Opernvorstellung durch ihre Präsenz Teil der Aufführung werden, ist es möglich, im Kino die innere Distanz zu wahren – indem die Kamera den Blick lenkt und vermittelt –, und dennoch ganz nah am Geschehen zu sein.
Gabriele Schleicher, ebenfalls aus Berlin, von Beruf Coach und Beraterin, findet, dass auch die medial vermittelte Live-Aufführung im Kino „die flüchtige Faszination einer Aufführung im Theater behält“. Zuletzt hat sie sich Hamlet mit Benedict Cumberbatch live aus dem Barbican Theatre in London angesehen.
Liveübertragungen der besten Theateraufführungen Englands
Seit 2009 hat es sich das Netzprojekt National Theatre Live Broadcast zum Ziel gesetzt, die besten Theateraufführungen Englands weltweit live in ausgewählte Locations zu übertragen. Filmstars wie Helen Mirren und Gillian Anderson auf einer Theaterbühne zu erleben, ohne die Stadt zu verlassen und ohne allzu tief in die Tasche greifen zu müssen, wann hat man dazu schon Gelegenheit?
„Ich finde es wunderbar, dass ich mir auf diese Weise spannende Inszenierungen mit großartigen Schauspielern quasi live anschauen kann. Und klar spielt das Wissen eine Rolle, dass das gleichzeitig auch noch Tausende von anderen Menschen in anderen Ländern der Erde tun.“
Natürlich soll die digitale Aufführung nicht das Live-Event ersetzen. Tobias Möller von der Berlin Phil Media stellt noch einmal klar, dass die Berliner Philharmoniker ein Live-Orchester sind und bleiben.
„Für uns ist es aber eine sehr gute zweitbeste Möglichkeit, unsere Konzerte mitzuerleben.“ Über das Angebot ist der barrierefreie Zugang auch für jene Menschen möglich, die rein körperlich nicht in der Lage sind, ein Konzert zu besuchen oder die sich eine Konzertkarte nicht leisten können.
„Unser Publikum lebt ja zum großen Teil gar nicht in Berlin. Dank unserer Mediengeschichte haben die Berliner Philharmoniker einen Freundeskreis, der sich über den ganzen Erdball verteilt und aus Menschen besteht, die noch nie ein Konzert von uns besucht haben.“
Bis heute gibt es keine vergleichbaren Angebote im Netz
Das liegt zum einen daran, dass ein Orchester einen so hohen Bekanntheitsgrad wie die Berliner Philharmoniker haben muss, um erfolgreich zu sein, und zum anderen auch an der Finanzierungsstruktur.
Von langjährigen Sponsoren können Orchester in anderen Teilen der Erde nur träumen. Allein über kontinuierliche Zuschüsse ist es möglich, die hohe Qualität zu gewährleisten. Für das Orchester hat sich das hohe Engagement im digitalen Bereich ausgezahlt: „Die Präsenz der Berliner Philharmoniker im Internet insgesamt ist um einen gigantischen Faktor gewachsen. Das geht weit über die erzielten Einnahmen aus der Digital Concert Hall hinaus.“
Seit dem Launch verbucht sie ein jährliches Wachstum um 20-30 Prozent. Neben den zahlenden Abonnenten gibt es 500.000 registrierte Nutzerinnen und Nutzer, die den Newsletter erhalten – und auf Facebook verbuchen die Philharmoniker nach dem Start der Digital Concert Hall mittlerweile mehr als 750.000 Likes. Dort erreichen sie auch die Leute, die nur ein diffuses Interesse an klassischer Musik haben.
Möglichkeiten längst nicht ausgeschöpft
„Wir sehen das als eine Erweiterung unseres Publikums. Das Publikum im Saal hat die Möglichkeit, seine Resonanz in Form von Applaus zu vermitteln. Über Social Media erfahren wir eine andere Form der Resonanz“, sagt Tobias Möller.
Die Möglichkeiten aber seien längst nicht ausgeschöpft. Derzeit gibt es Überlegungen, wie der Bereich der Bildung ausgebaut werden könnte – durch Online-Meisterklassen etwa. „Man ist nie fertig“, sagt Möller, „es ist ein nicht endendes Work-in-progress.“
Dieser Artikel ist auch im Magazin „Das Netz – Jahresrückblick Netzpolitik 2015/16“ veröffentlicht. Das Magazin ist gedruckt, als E-Book und online erschienen.
1 Kommentar
1 Tim am 11. Februar, 2016 um 10:00
Interessant wäre, wieviel Umsatz diese 22.000 Nutzer des digitalen Angebots der Berliner Philharmoniker generieren. So ist die Angabe wenig aussagekräftig: Von einem ziemlichen Flop (jeder kauft nur 1 Einzelticket pro Jahr) bis zu einem sensationellen Erfolg (alle sind Dauerabonnenten) ist alles drin …
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