Wissenschaftler kritisiert EU-Vorschlag zur Verlängerung der Schutzfristen
Prof. Bernt Hugenholtz, Direktor des “Instituut voor Informatierecht” (IViR) an der Universität Amsterdam, hat den Umgang der EU-Kommission mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Urheberrecht kritisiert. In einem offenen Brief (PDF, auf Englisch) an den Kommissionsvorsitzenden Jose Manuel Borroso zeigt er sich verwundert, dass zwei große Studien, die das IViR im Auftrag der EU-Kommission 2006 und 2007 erarbeitet hat, bei den neuesten Empfehlungen der EU-Kommission zum Urheberrecht völlig ignoriert wurden.
Im Zentrum der Kritik steht der neuerliche Vorschlag der EU-Kommission, eine Richtlinie zu erlassen, mit der die Schutzdauer für Tonaufnahmen von derzeit 50 Jahren auf 95 Jahre(!) verlängert werden soll. Während in der Begründung zur Richtlinie wortreich ausgeführt wird, warum ein solcher Schritt vor allem den armen Musikern zugute kommen soll, kamen die Wissenschaftler vom IViR in der Studie “The Recasting of Copyright & Related Rights for the Knowledge Economy” (PDF, ca. 1,7 MB, siehe auch das “Executive Summary”) nach ausführlicher Untersuchung zum gegenteiligen Ergebnis: “The authors of this study are not convinced by the arguments made in favour of a term extension.”
Der Schutz der Tonträgerhersteller basiere auf einem Investitionsschutzgedanken, dem mit einer Schutzdauer von 50 Jahren mehr als ausreichend Rechnung getragen werde. “For the large majority of sound recordings the producers are likely to either recoup their investment within the first years, if not months, following their release, or never. If a recording has not recouped its investment after 50 years, it is very questionable that it ever will. On the basis of this finding it can be assumed that a term of protection of 50 years offers phonogram producers more than enough time to recoup their investment.”, heißt es in der Studie.
Hugenholtz zeigt sich äußerst erstaunt darüber, dass die Untersuchung in dem neuesten “Copyright Package” (bestehend aus dem Richtlinienvorschlag (PDF, ca. 100 kB) zur Schutzfristverlängerung und einem neuen Grünbuch, siehe hierzu auch hier) der Kommission “nahezu vollständig ignoriert” wurde. Und dies, obwohl sie von der Kommission selbst in Auftrag gegeben wurde. Statt sich mit den entgegestehenden Empfehlungen der Studie auseinanderzusetzen, werde in den Erläuterungen für den Vorschlag, die Schutzfristen nahezu zu verdoppeln, auf Studien und Daten Bezug genommen, die von den Betroffenen selbst vorgelegt wurden.
Man sei selbstverständlich nicht davon ausgegangen, dass die Kommission die Ergebnisse der Studie ohne weiteres zum Gegenstand ihrer Politik mache, erläutert Hugenholtz seine Kritik weiter. Erbost zeigt sich der niederländische Rechtsexperte jedoch über die Art und Weise, wie die Forschungsergebnisse in jeder Hinsicht missachtet wurden. Und das ohne sich überhaupt hiermit auseinanderzusetzen.
Verständlicher Ärger kann man hierzu nur sagen. In der Tat ist es wieder einmal ganz erstaunlich, wie sich die Kommission ohne weiteres über sämtliche, aus objektiver Expertensicht gewonnenen Erkenntnisse hinwegsetzt, um den Forderungen der Unterhaltungsindustrie Folge zu leisten. Bei einem so sensiblen Thema wie den urheberrechtlichen Schutzfristen kann diese Vorgehensweise nicht vehement genug kritisiert werden. Denn eins liegt auf der Hand: Wird eine Schutzdauerverlängerung erst einmal beschlossen, ist sie kaum noch rückgängig zu machen. Denn Rechte, die einmal gewährt wurden, können nur äußerst schwer wieder entzogen werden. “Experimentieren und Evaluieren” funktioniert bei Ausweitungen des Urheberrechts nicht. Eine solche politische Linie führt vielmehr zum “Adoptieren und Zementieren” der Forderungen der Unterhaltungsindustrie.
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