Das Internet als Formprinzip
Manuela Schwesig dürfte im Mai 2014 einigermaßen überrascht gewesen sein. Überregionale Medien berichteten plötzlich, sie wolle syrische Kinder nach Deutschland holen und bei Familien unterbringen. Und sie sah sich mit Fragen konfrontiert. Musste dementieren.
Grund war eine Aktion des Zentrums für politische Schönheit (ZPS), das mit einer gefälschten Internetseite glaubhaft suggeriert hatte, das Bundesfamilienministerium habe eine „Kindertransporthilfe des Bundes“ ins Leben gerufen.
Tausende Menschen riefen beim ZPS an und signalisierten die Bereitschaft, Kinder aus Syrien aufzunehmen. Am Ende musste die Bundesregierung mitteilen, dass sie das angeblich schlüsselfertige Programm nicht umsetzen würde. Mit einer virtuellen Aktion zwang das ZPS die Realität zur Reaktion.
Manche sprachen von einem „Fake“. Philipp Ruch, Künstlerischer Leiter des Zentrums, erklärte in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau, dass ihn das Wort „Fake“ in diesem Zusammenhang sehr unglücklich mache. Was ist schon ein Fake, wenn er reale Reaktionen hervorruft?
Der Stinkefinger der Wahrheit
Fake war auch der Schlüsselbegriff in einer der großen Mediendebatten des Jahres 2015. #Varoufake und #Varoufakefake waren die Hashtags der Wahl. Und auch hier wurde deutlich, welche Wirkmächtigkeit Virtualität heute haben kann.
„Müssen Sie entscheiden, welches das Original ist“, sagt Jan Böhmermann am Ende des Videos, in dem er zuvor recht glaubhaft versichert hat, den Stinkefinger des griechischen Finanzministers gefälscht zu haben. Günther Jauch hatte in seiner Talkshow Yanis Varoufakis mit der Videosequenz konfrontiert, in der dieser Deutschland den Mittelfinger zeigt.
Die Empörung war groß – bei allen. Bei Varoufakis, der das Video als gefälscht bezeichnete, und bei den Deutschen, die sich vom Griechen nicht den Stinkefinger zeigen lassen. Und mittendrin stand Böhmermanns Behauptung, der Finger sei ein Fake. Was folgte, war eine der großen medialen Debatten des vergangenen Jahres.
Stefan Niggemeier, Kai Diekmann, die ARD, das ZDF – alle waren sie dabei und alle fragten sich, was denn nun wahr sei. Ganz so, als ob die Entscheidung, ob Griechenland in der Eurozone bleiben sollte, davon abhinge, ob Varoufakis einen Stinkefinger in die Kamera gehalten hat oder nicht.
Dabei sagt dieser Satz – „Müssen Sie entscheiden, welches das Original ist“ – alles, was über diese Debatte zu sagen gewesen wäre: Was echt ist und was nicht, entscheidet jeder selbst. Oder besser: Niemand kann sagen, was wahr ist und was nicht. Jan Böhmermann wusste das und hat so eine der besten Satiren dieses Jahres geschaffen.
Die Grenze zwischen Wahrheit und Unwahrheit wird undicht
Gelingen konnte dies aber nur, weil sich das Publikum (und ganz offensichtlich auch das Gros der Medienschaffenden) dieser Problematik der Wahrheitsfindung nicht bewusst ist. Spätestens mit der nahezu flächendeckenden Verbreitung des Internets ist die Grenze zwischen Wahrheit und Unwahrheit kaum noch zu ziehen. Auch im Alltag.
Jan Böhmermann hat dies gezeigt. Er hat gezeigt, dass „vor diesem Internet gar nichts mehr sicher ist“. Auch nicht Günther Jauch. Wenn es für Walter Benjamin die Fotografie und der Film waren, die das Original der technischen Reproduzierbarkeit preisgaben, so gilt für das Internet, dass es die Realität zusehends mit der Virtualität verschränkt.
Das bedeutet nicht nur, dass die virtuelle Person, die sich etwa auf Facebook oder Tinder bewegt, Einfluss auf die vermeintlich reale Person hat, sondern eben auch, dass der Unterschied zwischen Realität und Virtualität generell an Bedeutung verliert. Während sich Böhmermann dazu aufschwingt, auf äußerst unterhaltsame Weise Medienkompetenz zu vermitteln, birgt diese Grenzverschiebung oder -auflösung auch durchaus das Potenzial für neue Formen der Kritik.
Verdichtung von Raum und Zeit
Verstanden hat dies das Zentrum für politische Schönheit wie kaum eine andere Akteurin mit vergleichbarer Reichweite. Die vermeintliche Realität mit der Virtualität beziehungsweise mit einer Utopie zu verschränken, um einen kritischen Impetus zu erzeugen, ist eines der Leitmotive des Zentrums.
Seit 2014 nimmt sich das ZPS der Thematik Flucht und Migration an. In bisher vier Kunstaktionen prangerten sie den Umgang mit Flüchtenden an. Das Zentrum bewies dabei, dass seine Protagonistinnen nicht nur verstanden haben, wie das Internet funktioniert, sondern auch, was das Internet für die gesellschaftliche Produktion von Realität bedeutet.
Grob gesagt, führt das Internet sowohl zur Verdichtung von Raum und Zeit als auch zur Destruktion von Linearität und Authentizität: Es spielt keine Rolle mehr, wo man sich wann befindet, um kommunizieren zu können.
Die Erdkugel als beliebig faltbare Fläche
Das Internet und die damit verbundenen Möglichkeiten der Kommunikation und Datenübertragung machen aus der kugelförmigen Erde eine Fläche, die beliebig gefaltet werden kann, um verschiedene Punkte darauf zu verbinden.
Gleichzeitig lässt sich Information im Internet nicht mehr hierarchisieren oder in eine feste Reihenfolge bringen. Hypertextualität und die beliebige Reproduzierbarkeit schaffen ein anderes – assoziatives – Verhältnis zu Informationen.
Ein Zeitungsartikel birgt potenziell nicht nur den Artikel per se in sich, sondern das gesamte Internet, weil die Leserin von jedem Link ins World Wide Web getragen wird.
Wenn wir aber annehmen, all das verändere nur unser Verhältnis zur Information und zu Inhalten, dann ist das zu kurz gedacht. Stattdessen sollten wir davon ausgehen, dass sich unser Verhältnis zur Welt grundlegend wandelt.
Wieso sollte ein Mensch, der sich im Internet mehr oder weniger frei von Raum und Zeit bewegt, außerhalb dessen auf Dauer ein vollkommen anderes Verhältnis zu diesen Kategorien akzeptieren?
Klar: Der Mensch ist an bestimmte physikalische Grenzen gebunden. Trotzdem stellt sich dieses Weltverhältnis nicht nur im Kopf her. Das Kommunikationszeitalter schafft zumindest eine Annäherung an eine Weltgesellschaft. Darauf kommt es dem Zentrum für politische Schönheit im weitesten Sinne an.
Geschichte muss nicht linear voranschreiten
Nicht nur, dass das ZPS inzwischen basale Online-Werkzeuge wie Crowdfunding, Twitter oder Facebook benutzt. Darüber hinaus bedienen die Aktionskünstlerinnen internetspezifische Mechanismen, die ihre Kunst einer dem Online-Zeitalter entsprechenden Form unterwerfen.
In den letzten vier Aktionen, die von Mai 2014 bis September 2015 stattfanden, wurde deutlich, wie divers und innovativ das ZPS das Potenzial vermeintlicher Virtualität nutzt. Die Aktionen verschränkten dabei stets Räume oder Zeiten, die virtuell längst verbunden waren, real jedoch als getrennt betrachtet wurden.
So verbanden sich etwa in „Erster Europäischer Mauerfall“ und „Kindertransporthilfe des Bundes“ jeweils zwei historische Ereignisse, die in ihrer Konfrontation einen eigenen Kontext schufen, in dem beide Ereignisse in einem anderen Licht erschienen.
Kritik aus einem Kontext heraus, der so vorher nicht existierte
Durch die assoziative Verknüpfung des Mauerfalls mit dem europäischen Grenzregime und der EU-Abschottungspolitik versucht das ZPS ein Verhältnis zwischen zwei historischen Begebenheiten herzustellen. Um dem Publikum zu zeigen, dass geschichtliche Ereignisse nicht unverbunden chronologisch aufeinander folgen, sondern dass sie miteinander verknüpft sind.
Dass das Motto der diesjährigen Gedenkfeier zur deutschen Einheit „Grenzen überwinden“ lautet, während die Bundesregierung an der Abschottung der EU-Außengrenzen tüftelt, ist an Zynismus kaum zu überbieten. Akzeptiert wird dies nur, weil beide Begebenheiten als unverbunden wahrgenommen werden.
Das ZPS versucht indes, die verbindende Logik aufzuzeigen: Flucht, Grenze, Tod. Gebrochen wird hier mit einem Zeitverständnis, das von der Linearität der Geschichte ausgeht. Denn das tun wohl immer noch die meisten.
Dabei spricht weder physikalisch noch philosophisch etwas dagegen, dass es auch anders sein könnte. Und wenn das Internet bekanntlich nicht vergisst, wenn jede von uns zu jedem Zeitpunkt mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert werden kann, dann entspricht das ZPS dem, indem es Zeiten als sedimentierte Ebenen zu begreifen scheint.
Geschichtliche Ereignisse werden quasi zu Webseiten, die gleichzeitig abgerufen werden und im Nebeneinander anders verstanden werden können.
„Die Toten kommen“
Bei den beiden anderen Aktionen des ZPS – „Die Toten kommen“ und „Die Brücke“ – wurden Räume miteinander in Bezug gesetzt, wobei die genannte Brücke dies recht traditionell als Bauwerk tut. Im Gegensatz dazu steht die Aktion „Die Toten kommen“, bei der im Sommer 2015 zwei im Mittelmeer ertrunkene Flüchtlinge in Deutschland bestattet wurden.
Die Aktion erntete viel negative Kritik. Teilweise, weil sie missverstanden wurde; vielleicht aber auch, weil Empörung so etwas wie ein natürlicher Reflex ist, wenn tote Flüchtlinge im geistigen Vorgarten der Deutschen begraben werden. Dabei ist genau das der Grundgedanke der Aktion: In der modernen Gesellschaft gibt es kein Hier und Dort mehr.
Menschen, die im Mittelmeer sterben, weil wir die Grenzen dichtmachen, haben wir auf dem Gewissen. Menschen, die im Mittelmeer, in Syrien oder in Saudi-Arabien sterben, sind so nah dran, dass sie in Deutschland bestattet werden könnten. Im übertragenen Sinne und während „Die Toten kommen“ ganz wahrhaftig.
Ob man den Aktionen des Zentrums für politische Schönheit nun inhaltlich etwas abgewinnen kann oder nicht; formal sind sie Ausdruck eines innovativen Verständnisses der Internetgesellschaft, die es (noch) nicht schafft, über den Bildschirm und das Auslandssemester hinaus in die weite Welt zu schauen.
Die real gewordene Virtualität des Internets
In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau hat Philipp Ruch, künstlerischer Leiter des ZPS, die Erweiterung der moralischen Phantasie der Menschen als eine Aufgabe des Zentrums benannt.
„Zur Erweiterung der menschlichen Vorstellungskraft gehört, dass sie in die Realität hineinreicht“, sagt Ruch. Die Realität ist aber längst nicht mehr nur der eigene Vorgarten, sondern die real gewordene Virtualität des Internets.
Die Aktion „Kindertransporthilfe des Bundes“ hat das deutlich offenbart. Virtualität und Realität wurden hier so verschränkt, dass die Utopie, eines Regierungsprogramms ihre Wirkmächtigkeit in der Realität entfalten konnte. Mit Virtualität wurde die Realität zur Reaktion gezwungen. Gleichzeitig zeigt diese Aktion, dass Virtualität und Realität nicht weit auseinander liegen.
Wenn Ruch im Interview mit der Frankfurter Rundschau nach einem Grund fragt, wieso das, was die Kunst vordenkt, nicht Wirklichkeit werden sollte, dann fällt es schwer, dies zu beantworten.
Denn – um beim Beispiel zu bleiben: die syrischen Kinder sind echt, die Familien, die sie aufnehmen wollten auch, und schenkt man dem Zentrum Glauben, dann gilt das auch für das gesamte Konzept des Kindertransports. Allein die Initiative des Familienministeriums wurde fingiert.
Einen triftigen Grund dafür, diese nicht doch noch zu ergreifen – also das von der Kunst Vorgedachte zu verwirklichen –, blieb die Bundesregierung schuldig.
Dieser Artikel ist auch im Magazin „Das Netz – Jahresrückblick Netzpolitik 2015/16“ veröffentlicht. Das Magazin ist gedruckt, als E-Book und online erschienen.
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