Transparenz auf Chinesisch
Wetten, dass die meisten Leser bei der Überschrift „Informationsfreiheit“ an Themen wie Zensur, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit denken? Freier Fluss von Informationen, Informationsgesellschaft und globales digitales Dorf, solche Sachen?
Darum geht es heute nicht. Vielmehr geht es um einen Rechtstext, den China vor fast genau fünf Jahren in Kraft gesetzt hat. Am 17. Januar 2008 hat der chinesische Staatsrat eine Regulierung verabschiedet, die man mit dem deutschen „Informationsfreiheitsgesetz“ oder dem US-amerikansichen „Freedom of Information Act“ vergleichen kann. Informationsfreiheit in China? Für diejenigen, die das überrascht, hier eine Zusammenfassung.
– Regulierung zur Publizität von Regierungs-Informationen
Die „Regulierung zur Publizität von Regierungs-Informationen“ (klingt im deutschen holpriger als im chinesischen, Hintergrundinformationen zum Beispiel bei Freedominfo.org) regelt, welche Informationen und Dokumente aus den Schränken und Festplatten von Regierungsstellen für die Bürger einsehbar sind – und welche nicht. Ähnliche Gesetze werden weltweit als wichtiges Mittel im Kampf gegen Korruption und Amtsmissbrauch eingesetzt. Meine Lieblingsversion eines solchen Gesetzes ist kurz und existiert nicht. Sie lautet: „Die Institutionen des öffentlichen Sektors publizieren alle Informationen, über die sie verfügen – außer es spricht etwas nachweisbar dagegen.“
Das kann man dann auf acht Seiten ausbreiten (Deutschland), oder auf 70 (Großbritannien), bleibt am Ende aber doch das Gleiche: Die Gesetze reißen ein paar Löcher in die bürokratischen Festungswälle, erlauben es Bürgern, Journalisten oder Medien genauer hinzusehen. Sie legen üblicherweise fest, welche Informationen „der Staat“ (was unterschiedlich definiert wird) proaktiv publizieren muss, und formulieren Regeln, wie Bürger darüber hinaus den Zugang zu spezifischen Informationen beantragen können. All diese Gesetze enthalten Ausnahmetatbestände: Staatsgeheimnisse, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse oder persönliche Daten sind in aller Regel von der Transparenzpflicht ausgenommen.
Die chinesische Regulierung (hier in einer englischsprachigen Übersetzung (PDF, 40 KB)) macht da erst einmal keine Ausnahme. Sieht man sich den Text an, stellt man einen Fokus auf proaktive Informationspflichten der Regierungsstellen fest, während das Recht auf antragsbasierten Informationszugang ein wenig versteckt und im Artikel 13 knapp formuliert daher kommt. Die Intention der Regulierung stellt sich dar als Regierungsreform, Modernisierung, bessere Aktenpflege, effizientere Informationsverwaltung – und natürlich Kampf gegen Amtsmissbrauch und Korruption, weiterhin als Schwerpunkt der obersten chinesischen Regierungsebene ausgerufen.
Entsprechend sind die detailliertesten Passagen des Gesetzes, und die meisten Richtlinien und Fortbildungen, die chinesische Beamte zur Implementierung erhalten, darauf ausgerichtet, die Arbeitsabläufe innerhalb der Verwaltung darauf auszurichten, dass mehr Informationen und Dokumente auf den Webseiten der Behörden angeboten werden können. Das alleine ist eine gewaltige Anstrengung, sie betrifft im Prinzip jeden einzelnen Beamten im ganzen Land – das sind etwa sieben Millionen.
Informationszugang auf Antrag ist im Prinzip viel einfacher: Man muss nichts tun, außer darauf warten, dass ein Bürger nach einem Dokument fragt, und dann entscheiden, ob man es ihm geben kann, oder ob ein Ausnahmetatbestand greift. In der Praxis der chinesischen Verwaltung ist es nicht ganz so einfach. Bei weitem nicht jeder Beamte ist im Umgang mit seiner eigenen Transparenzpflicht geschult und kennt die gesetzlichen Regelungen und Verwaltungsprozesse.
Das Beamtengesetz droht zudem mit disziplinarischen Konsequenzen für Staatsdiener, die Informationen herausgeben, die sie nicht hätten herausgeben sollen. Das Gesetz zu Staatsgeheimnissen lauert im Hintergrund mit noch drakonischeren Strafen. Und die Definitionen in der Transparenzregulierung dazu, was nun eine Ausnahme vom Prinzip der Öffentlichkeit darstellt und was nicht, sind so vage, dass die Motivation der Behördenmitarbeiter klar ist: Im Zweifel ist es für die Beamten immer von Vorteil, einen Antrag negativ zu bescheiden, eine Information nicht online zu stellen.
Ein abgelehnter Antrag ist entweder das Ende der Geschichte, oder der Fall geht über die Konfliktlösungsmechanismen zu höheren Hierarchiestufen mit mehr Autorität, die Sachlage zu interpretieren. Die Quote der Anträge, die innerhalb des von der Regulierung vorgebebenen Zeitrahmens (in der Regel 15 Tage) positiv beschieden wurden – eine Information, die andernorts oft in die Evaluation einer Behörde oder eines Beamten eingeht – spielt für die Karriereaussichten des Beamten bisher keine Rolle. Eine Disziplinierung aufgrund der Publikation geheimer Informationen würde dagegen eine fatale Rolle spielen.
Die Erfahrung der ersten fünf Jahre der Regulierung hat noch weitere Schwächen offenbart: Nichtregierungsorganisationen und Medien sind international die intensivsten Nutzer von Informationsfreiheitsgesetzen. In China spielen die Massenmedien als Kontrollorgan staatlichen Handelns praktisch keine Rolle. Durch die vergleichsweise schwache Rolle der Zivilgesellschaft gibt es wenige Institutionen, die als Vorreiter des Informationszugangs die Grenzen des Möglichen austesten würden.
Individuen haben kein großes Interesse, sich über die Fälle hinaus, in denen es um die eigenen Belange wie drohende Umsiedelung oder Wasserverschmutzung geht, mit staatlichen Stellen anzulegen. Eine genervte oder gar zornige Verwaltung gegen sich zu haben, ist in China noch weniger angenehm als anderswo. Natürlich gibt es engagierte Bürger, die mehr wissen wollen als die staatlichen Bulletins verraten möchten, aber solches Engagement ist noch rar (hier ist ein schönes und amüsantes Beispiel, passend zum bald wieder anstehenden chinesischen Neujahrsfest-Reisewahnsinn).
Auch der Weg vor ein Gericht im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens ist im China des sich noch entwickelnden Rechtsstaatssystems weniger zuverlässig, als er sein sollte. Verfahren können lang und kostspielig werden – und gleichzeitig haben die Gerichte noch wenig Erfahrung mit der Auslegung der Informationzugangsregulierung. Gerade die Balance der Rechte aus verschiedenen Gesetzen und Regulierungen bedeutet für die Verwaltungsrichter oft Pionierarbeit. Das Resultat solcher Beschwerdeverfahren ist schon deshalb schwer vorherzusagen.
Natürlich wurden Fortschritte erzielt in den fünf Jahren Regulierungspraxis:
- Die Provinz Guangdong war schon 2009 Vorreiter einer umfassenden Transparenzinitiative zum Provinzhaushalt (hier in einem Blog des Wall Street Journal erwähnt, mit mehr Beispielen), etablierte ein zu gewissem Ruhm gelangtes umfassendes System der Budget-Transparenz, und veröffentlicht regelmäßig die Ausgaben für Reisen, Bewirtung und den Fuhrpark, die größten Quellen der Verschwendung öffentlicher Mittel in China.
- Das Dorf Baimiao in der Provinz Sichuan ist derzeit so etwas wie der Popstar der Transparenz-Szene (Spitzname „naked government“), nachdem die lokale Regierung 2010 begann, alle Ausgaben inklusive der exzessiven Bewirtungsrechnungen online zu stellen und die resultierende Kritik der Öffentlichkeit an der bisherigen Verschwendung zum Anlass für Reformen zu nehmen (mehr dazu hier).
- Immer mehr Ministerien nehmen an Evaluationen zur Qualität ihrer Transparenzbemühungen teil. Ein Beispiel einer solchen Analyse ist der jährlich publizierte Bericht des Center for Public Participation Stduies and Supports (CPPSS) der Peking Universität. Im letzten Bericht (Zusammenfassung hier) wurde festgestellt, dass für die Mehrheit der Ministerien auf nationaler Ebene stetige Transparenz-Verbesserungen gemessen werden konnten, mit dem Transportministerium als Gewinner der diesjährigen Untersuchung.
- Nichtregierungsorganisationen wie das Institute for Public and Environmental Affairs (IPE) des prominenten Umweltaktivisten Ma Jun beginnen, die Zugangsrechte und die von den verschiedenen Regierungsstellen systematisch publizierten Informationen zu nutzen. Das IPE sammelt publizierte Regierungsinformationen, ergänzt sie durch Informationszugangsanträge und eigene Recherchen, und stellt auf der Website Tabellen von Wasserverschmutzung und -Wasserverschmutzern bereit. Ziel ist es, Druck auf die internationalen Unternehmen auszuüben, die in China produzieren lassen, um ihre Zulieferer zu verantwortlicherem Umgang mit den Wasser-Ressourcen zu bewegen.
- Die Diskussion zur Reform der Informationszugangsrechte ist lebendig und offen. Eine Gruppe akademischer Experten und motivierter Beamter arbeitet seit Jahren daran, sowohl bessere Richtlinien zur Umsetzung der existierenden Regulierung auszuarbeiten als auch Vorschläge zur Reform des Rechtsrahmens zu formulieren. Im Dezember 2012 kamen führende Experten und Praktiker in einer Konferenz der Peking Universität und des US-amerikanischen Carter Center zusammen und entwickelten Empfehlungen zu Chinas nächsten Schritten in Richtung mehr Transparenz. Recht überraschend herrschte vor allem Einigkeit dazu, dass die derzeitige Regulierung ein zu schwaches Instrument sei und durch ein Gesetz ersetzt werden müsse, um sich gegen die Widerstände der Verwaltung und der verwandten Gesetze durchsetzen zu können. Eröffnungsredner Jimmy Carter hatte dies der Konferenz mit auf den Weg gegeben – und er erwähnte nebenbei, dass er auch dem künftigen Premier Li Keqiang diesbezüglich sehr deutlich ins Gewissen geredet hatte (kurzer Konferenzbericht hier).
Der Weg zur Regulierung, wie sie jetzt existiert, war außerordentlich schwierig. Das merkt man dem Papier an, es wird nicht besser durch die vielen Kompromisse. Dass die Regelung gegen viele Widerstände aber überhaupt existiert, ist allein schon ein kleines Wunder. In diesem Bereich gab es keine Welthandelsorganisation, die auf Vereinbarungen und Vertragsanhänge pocht (aus denen dann oft doch nichts wird, siehe Telekommunikationsgesetz).
Der Druck zur Informationszugangsregulierung kam von innen: In einem kleinen Workshop des EU-China Information Society Project waren schon 2005 zwei Vizeminister anwesend, die beide in ihren Kommentaren die starke Bedeutung einer solchen Regulierung für Chinas „Demokratisierung“ betonten. Natürlich ist Chinas Demokratie-Konzept ein anderes, und es wird sich sicher lohnen, auseinanderzudividieren, wie dieses Konzept aussieht beziehungsweise aussehen könnte. Aber wenn mehr Transparenz staatlichen Handelns und Verfügbarkeit von mehr Informationen Teil davon ist, dann ist das ein gutes Signal.
Die Maßnahmen, die die Regelung in Kraft setzt, sehen in der chinesischen Realität anders aus als in Kanada oder in Schweden. Das schadet aber erstmal nichts – die gesetzten Signale und die Qualität der Diskussion sind spannend, und es wird interessant sein zu sehen, wie die Lehren der letzten fünf Jahre Informationszugangsregulierung in Reformen umgesetzt werden. Informationszugangsrechte sind weiterhin eine Baustelle – nicht nur, aber auch in China.
Dieser Text erschien ursprünglich im Blog Roter Vorhang. Die Veröffentlichung bei iRights.info erfolgt mit Erlaubnis des Autors.
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