Warum die NSA-Affäre niemanden wirklich stört? Vielleicht, weil selbst Facebook weniger trackt als Guardian und FAZ
Seit über einem halben Jahr läuft der NSA-Skandal. Seit über einem halben Jahr veröffentlichen insbesondere der britische Guardian und die New York Times weitere Details aus den Snowden-Dokumenten. Zu der Veröffentlichungs-Strategie habe ich mich bereits hier und hier kritisch geäußert. Aktuell beschäftigt mich eine andere Frage: Warum interessieren die Snowden-Leaks zwar auf informativer Ebene, rufen zugleich aber keine statistisch relevanten Reaktionen hervor. Es ist von keinem ernsthaften Nutzer-Exodus zu lesen, es häufen sich keine Berge aussortierter Smartphones. Ein Gastbeitrag von Caspar Clemens Mierau.
Vielleicht ist ein Grund, dass wir den Skandal als aufregend skandalös empfinden und er uns bestens unterhält. Mehr aber nicht. Eine steile These? Werfen wir einen Blick auf die Nachrichten-Seiten, die an vorderster Front über die Leaks berichten, sich gegen Überwachung und Tracking stemmen und an der ein oder anderen Stelle auch schon mal einen Hauch von Anti-Amerikanismus durchblicken lassen…
FAZ
Erst gestern erschien in der FAZ der vielbeachtete “Aufruf der Schriftsteller“, in dem sich über 560 Autoren wie folgt äußern:
“Ein Mensch unter Beobachtung ist niemals frei; und eine Gesellschaft unter ständiger Beobachtung ist keine Demokratie mehr.”
Eine klare Forderung. Leider ist die Beobachtung von Benutzern ein so verlockend effizienz-steigerndes Tool, dass beim Lesen des Artikels auf faz.net laut dem Browser-Plugin Ghostery immerhin 11 Tracking-Dienste eingesetzt werden – die die Daten zum großen Teil auch gleich in die USA transferieren (unter anderem Doubleclick, Google Adsense/Analytics und Chartbeat):
Besonders lustig ist diese Tracker-Liste bei der FAZ, wenn man den FAZ-Service-Artikel „Wie wehre ich mich gegen Überwachung?“ liest, in dem unter anderem die Frage aufgeworfen wird:
“Was wissen Google und Facebook denn über mich?”
Nun, in diesem Fall weiß Google zumindest, dass gerade der Artikel gelesen wird. Hätte man der Ehrlichkeit halber ja mal hinschreiben können. Stattdessen wird aber lieber mit dem Finger auf das Internet gezeigt – so als passiere es eben „dort“ und nicht „hier und jetzt“:
Guardian
Diese offensichtliche Diskrepanz zwischen journalistischem Anspruch und Internet-Realität ist nicht nur Problem der FAZ. Auch der Guardian ist gut dabei – besser eigentlich. Ghostery meldet hier gleich 31 (in Worten: einundreißig) Tracker beim Lesen eines Artikels zu den Snowden-Leaks. Es sind so viele, dass man schon eher berichten müsste, welche nicht verwendet werden:
New York Times
Auch die New York Times, die gemeinsam mit dem Guardian Leaks bearbeitet und veröffentlicht, reiht sich in die Liste nahtlos ein:
taz
Auch eher alternative Medienauftritte wie der der taz spielen in dem Spiel mit. Im Artikel „Googles Anti-Spähkampagne. Verlogen? Genau!“ heißt es:
„Große Internetkonzerne wie Google oder Facebook starten eine Kampagne gegen Spionage. Selbst wollen sie auf das Datensammeln aber nicht verzichten.“
Zugleich bindet der Artikel Googles Werbe-Tracking-Netzwerk Doubleclick ein. Vielleicht ist es ja Haarspalterei – ich sehe hier einen Bruch, den ich so nur belächeln kann:
Die anderen? Auch… bis auf… Facebook?
Die Liste kann problemlos weitergeführt werden. Süddeutsche (24 Tracker), Spiegel Online (18 Tracker), ZEIT Online (14 Tracker), Welt (24 Tracker), BILD Online (24 Tracker) – es ist überall die gleiche Situation. Manchmal fragt man sich, ob hier Experimente gefahren werden, um möglichst verschiedene Tracking-Dienste gegeneinander laufen zu lassen. Moment – es gibt Ausnahmen. Zum Beispiel Facebook – hier muss mehrfach neugeladen werden, um einen (1!) externen Tracker wie Adition oder Doubleclick zu erwischen.
Natürlich ist das Aufführen von Facebook.com als weitestgehend tracker-freie Seite mehr als spitzfindig. Rein numerisch setzt die Seite aber weniger externe (und damit unerwartete) Dienste ein, als die Vorkämpfer für ein überwachungsfreies Netz.
Fazit
Persönlich habe ich kein Problem mit Tracking-Diensten. Sie helfen bei der Analyse und Optimierung von Webauftritten. Deswegen echauffiere mich an dieser Stelle auch nicht über sie, um sie gleichzeitig stillschweigend einsetzen (diese Seite setzt Google Analytics, WordPress Stats, den Flattr-Button und gegebenenfalls eingebettete Tweets ein). Die Diskrepanz zwischen Artikel-Inhalt und Realität auf journalistischen Angeboten erklärt Christoph Kappes wie folgt:
@leitmedium Verlag vs Redaktion, das ist überall dieselbe Situation.
— Christoph Kappes (@ChristophKappes) November 30, 2013
Damit hat er sicher Recht. Das Problem ist aber tiefgreifender. Die Logik des Netzes und die Logik des Kapitalismus scheinen einen steten Optimierungszwang auszuüben. Es ist uns zwar erlaubt, dies zu kritisieren – aber nur im getrackten und optimierten Rahmen. Immerhin sollen die Artikel ja von möglichst vielen Personen gelesen werden und zugleich auch Einnahmen generieren. Auch das kritisiere ich nicht. So ist das Netz, so ist unsere Wirtschaftslogik. Wir sollten nur damit aufhören, uns und anderen etwas vorzumachen.
Technischer Hinweis
Die Screenshots wurden in Chrome mithilfe des Ghostery-Plugins angefertigt. Die Zahlen sind nicht absolut, da sie von Aufruf zu Aufruf schwanken können (zum Beispiel durch Ladefehler aber auch A/B-Tests der Betreiber). Wer den Test nachstellen möchte, sollte unbedingt Plugins wie Adblock Plus deaktivieren, da sie sonst das Ergebnis durch Vorfiltern verfälschen können.
Dieser Beitrag ist ein Crossposting aus dem Leitmedium-Blog von Caspar Clemens Mierau. Mierau, geboren 1978, hat Medienkultur an der Bauhaus-Universität Weimar studiert. Er arbeitet nachts an einer Dissertation über Entwicklungsumgebungen und tagsüber in Berliner Start-ups. In der übrigen Zeit bloggt er auf leitmedium.de und podcastet auf leitmotiv.cc und picknick-am-wegesrand.cc, wo er sich unter anderem mit (Post)-Privatsphäre befasst. In den letzten Jahren erschienen Artikel bei Golem, in der Berliner Gazette, Telepolis und der ZEIT.
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