Verleiten Lehrer zu „systematischen Urheberrechtsverletzungen”?
Im Feuilleton-Aufmacher der Süddeutschen schreibt Willi Winkler heute darüber, „wie Project Gutenberg das Urheberrecht unterläuft”. Kern des Anstoßes für Winkler: Die Buddenbrooks und andere Werke von Thomas Mann sind in den USA bereits gemeinfrei, in Deutschland noch nicht. Dennoch stehen sie bei gutenberg.org digitalisiert als E-Book online.
Die Lage beschreibt er so:
Dürfen die das überhaupt? Beim Fischer-Verlag reagiert man ausweichend und dann empfindlich. „Downloads von Deutschland aus sind in solchen Fällen illegal”, erklärt man dort, aber was hilft das schon? Illegal heißt noch lange nicht, dass es niemand tut. Niemand kann einen Franzosen, Kanadier oder Isländer daran hindern, im Internet zu fischen, bis er den Thomas Mann hat, den er nach deutschem Recht nicht bekommt. Das gilt, das Internet kennt da kein Vaterland, natürlich auch für die deutschen Leser, die, aus, welchen Gründen auch immer, den Weg in die nächste Buchhandlung scheuen.
Er beschreibt dann auch durchaus zutreffend die Motivation des Gutenberg.org-Gründers Michael S. Hart und von freiwilligen Helfern wie Norbert Langkau, die Werke einscannen und korrekturlesen.
Am Beginn und am Ende des Textes jedenfalls taucht ein Gymnasiallehrer auf, der seine Schüler dazu auffordert, die „Buddenbrooks” für orthografische Übungen herunterzuladen. Doch während Winkler bei Langkau noch ein echtes Bildungsinteresse erkennt, wird der erwähnte Lehrer mit allerlei Fragezeichen verdächtigt. Er sei jemand, der
den Bildungsauftrag so versteht, dass er seine Schüler aus Faulheit? aus Resignation?, aus Unwissenheit? dazu anleitet, systematisch gegen das Urheberrecht zu verstoßen.
Dabei liegt die Kernfrage so nahe: Kann ein Lehrer in Deutschland mit digitalen Materialien arbeiten, ohne „systematisch gegen das Urheberrecht zu verstoßen”, wenn er sich nicht zum Urheberrechtsexperten weiterbilden lässt? Schon die Regeln für Kopien aus Schulbüchern sind komplex und kleinteilig genug. Immerhin wurde der Schultrojaner vergangenes Jahr beerdigt, so dass Schulbuchverlage den Lehrern nicht bis auf den Computer hinterherspionieren können. An den zugrundeliegenden Verträgen aber hat sich kaum etwas geändert.
Hinzu kommen die Regelungen für Kopien aus Werken, die keine Schulbücher sind – wie etwa die „Buddenbrooks” – und nicht zuletzt die Regeln für Schutzfristen, nach denen er bestimmen müsste, ob ein Werk auch in Deutschland zweifelsfrei gemeinfrei ist. Das Projekt Europeana Connect hat diese in einem Schaubild zusammengetragen:
In einem Beitrag über Public-Domain-Archive schrieb ich dazu (shameless self-quote):
Trotz vereinheitlichter Regeln gibt es rechtlich nach wie vor nicht die „eine” Public Domain. Allein in der EU sind es 27 Varianten, wie Christina Angelopoulos, Informationsrechtlerin an der Uni Amsterdam, in ihrem Aufsatz „The Myth of European Term Harmonization” feststellt. „Kultureinrichtungen folgen meist den Regelungen zur Schutzdauer in ihrem Land, Rechtssicherheit für Nutzer anderswo entsteht daraus nicht”, schreibt sie. Würden die Betreiber weltweit Rechtssicherheit vorraussetzen, stünde kaum ein Werk jemals online.
Ob Willi Winkler die Konsequenz ziehen würde, die Werke gar nicht mehr in digitalen Archiven anzubieten, solange die rechtliche Situation so ist, wie sie ist, wird nicht recht deutlich. Der Artikel bleibt in der Schwebe, legt es aber nahe, wo vom „modernen Urheberrechtsmissbrauch” durch Project Gutenberg die Rede ist. Ob es noch Gebrauch oder schon Missbrauch des Urheberrechts ist, Werke mit stetig verlängerten Schutzfristen der Öffentlichkeit zu entziehen, fragt er dagegen nicht.
Michael Hart, der sich gegen die Urheberrechtsverlängerung durch den Sonny Bono Extension Act wandte, äußerte sich dazu deutlich. In einem Interview mit Richard Poynder merkt er an, wie die Rede über Bildung zur Heuchelei wird, wenn die Werke nicht angeboten, sondern vielmehr weggeschlossen werden:
RP: You clearly see a larger agenda here. In a previous interview you said: “The Internet could be the greatest educational tool of all history, but they are trying to pass laws to keep all the great books of the last century off the Internet.”
MH: Right. Just to clarify: I meant the most recent century, not the one before. But it just seems obvious to me that they would never allow that kind of power into the hands of the public, no matter how much they hypocritically talk about “universal education.”
Vielleicht hat Willi Winklers als entweder „faul”, „unwissend” oder „resigniert” dargestellter Gymnasiallehrer seinen Bildungsauftrag gar nicht so falsch verstanden. Das Problem ist nicht, dass „Project Gutenberg das Urheberrecht unterläuft”, sondern das Urheberrecht Plattformen wie Project Gutenberg.
5 Kommentare
1 LennStar am 16. September, 2013 um 15:34
Zu den hier angesprochenen Verträgen mit den Schulen:
http://www.lennstar.de/gedanken/?p=156
Mein Kommentar in der SZ (mal sehen, ob er bleibt):
Verfall des Urheberrechts? Recht reißerisch, oder?
Sehen wir uns mal die Fakten an: Das Urheberrecht existiert in 2 Traditionen: Das Copyright, das an einen Zweck gebunden ist: Um Wissenschaft und nützliche Künste zu fördern, wie es die US-Verfassung ausdrückt.
Nach dieser Zweckbindung ist jedes Copyright auf einen Mann inzwischen widersinnig: Kein Mann wird neue Bücher schreiben, egal wie oft man die Copyright-Dauer noch verlängert (es gab übrigens gute Gründe, sie so kurz zu machen, wie sie mal war).
Die zweite Tradition ist die kontinentaleuropäische: Aus der Liebe eines Autors zu seinem Werk leiten sich diverse Rechte ab – unter anderem das Recht auf Verkauf.
Nun wird auch hier ein Mann keine weiteren Bücher schreiben, wenn der Verlag sie noch länger verkauft (egal, ob seine Enkel was davon haben). Auch er selbst profitiert nicht mehr davon.
Auch hier macht also ein weiteres Verlegermonopol keinen Sinn.
Zudem: kein Verlag rechnet mit 50 Jahren oder noch länger beim Kauf von Buchrechten. Weil sich so lange kaum ein Buch verkauft.
In den USA hat man das untersucht, indem die bei Amazon erhältlichen Bücher nach Dekaden sortiert wurden. Nach 10 Jahren waren – logisch – die meisten Bücher erhältlich. Nach 20 Jahren war die Zahl schon um 1/3 gesunken, noch länger und es war kaum noch ein Buch erhältlich – bis Copyright 1923. Ab da stieg die Zahl wieder stark an – denn diese Bücher sind gemeinfrei. Die Zahl der Dekade 1920-1920 lag zwischen der 10-Jahres und der 20-Jahres Periode.
Anders ausgedrückt: Im Schnitt nach 14 Jahren (zufällig(?) die Dauer, die das Copyright einst galt), sind mehr Bücher erhältlich, wenn sie in die Gemeinfreiheit fallen, als wenn ein Verlag das Monopolrecht weiterhin hat.
3/4 der Bücher im Copyright sind gar nicht mehr (legal) zu erwerben, weil sie nicht mehr vertrieben werden – drucken darf sie trotzdem keiner, weil die Rechte nicht erwerbbar sind – meist, weil niemand weiß, wer sie hat.
Bei Filmen sieht es noch schlechter aus. Es gibt auf der ganzen Welt keine einzige Filmrolle, die nach den heutigen Gesetzen frei verwendbar wäre – sie verrotten einfach bis nichts mehr übrig ist.
Archivierung? Restauration? Dringend nötig, aber illegal.
[gekürzt, bitte sachlich bleiben, d. Red.]
2 LennStar am 16. September, 2013 um 18:04
Liebe Redaktion, das war sachlich. Vergleicht einfach mal die Zahlen.
Nicht jeder Nazi-Vergleich hinkt. Ich hätte auch die Inquisition nehmen können – die hat auch keine 75% Bücherverlust erreicht.
3 Redaktion iRights.info am 16. September, 2013 um 18:13
@LennStar: Sie dürfen vergleichen, was sie wollen, aber im Sinne der Diskussionskultur und Godwin’s Law behalten wir uns dennoch vor, Kommentare entsprechend zu kürzen. Ihr Beitrag ist ja hier ohnehin auch per Trackback verlinkt.
Danke trotzdem für den Kommentar und Gruß, D.P.
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