Recht kann niemals “gesellschaftsneutral” sein
Am 10. Oktober 2011 fand auf Einladung der Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE das Fachgespräch “Urheberrecht für das digitale Zeitalter” statt. iRights.info-Redakteur Matthias Spielkamp war eingeladen, den Einführungsvortrag zu halten. Wir dokumentieren ihn hier in voller Länge:
In einem Vortrag auf der USENIX 2011, der Konferenz der Advanced Computing Systems Association, hat der britische Science-Fiction-Autor Charlie Stross kürzlich ein interessantes Gedankenexperiment präsentiert.Stellen Sie sich vor, bat er seine Zuhörer, dass es um das Jahr 1960 herum jemandem gelingt, eine Zeitmaschine zu bauen. Mit der befördert sich dieser jemand in eine nicht allzu ferne Zukunft, nämlich in unsere Gegenwart. Der Zeitreisende kommt aus einer Großstadt der USA und landet in einer Großstadt der USA. Was wird er sehen, wie wird er es interpretieren?
Viele Gebäude sehen vertraut aus. Die, die nicht vertraut aussehen – also die ganze Skyline – sehen zumindest so aus, wie man sich in Magazinen der 1960er Jahre die Städte der Zukunft vorgestellt hat. Autos sind Autos, auch wenn sie ein wenig wirken, als seien sie geschmolzen. Die zehn Millionen Zeilen Softwarecode und zahlreichen Chips in einem durchschnittlichen Auto des Baujahrs 2011 sind natürlich unsichtbar. Hüte sind nicht mehr so in Mode, die Kleidung hat sich in recht seltsame Richtungen entwickelt, aber was soll man anderes erwarten?
Woran merkt man, dass man sich in der Zukunft befindet?
Der Besucher aus einer anderen Zeit könnte sich wundern über die Menschen, die mit Drähten im Ohr rumlaufen, oder die leuchtende Kästen in der Größe von Zigarettenschachteln mit sich herumtragen. Aber Kopfhörer waren im Jahr 1961 nicht unbekannt, und Taschenfernseher waren schon immer ein Zeichen dafür, dass man sich jetzt in der Zukunft befindet.
Doch es scheint eine Menge Leute zu geben, die sich ein Stück Plastik ans Ohr geklemmt haben und mit sich selber sprechen, und warum sieht man auf all den Plakaten eine Art Buchstabensuppe, die mit .de oder .com endet?
Die äußere Form der Zukunft enthält die Gegenwart und die Vergangenheit, so Stross, eingebettet wie Fliegen in Bernstein. Der Besucher ist vertraut mit Autos und Kleidung und Gebäuden, denn die gab es schon zu seiner Zeit. Aber er hat noch nie von Packet-Switching-Technologie gehört, er denkt, dass Computer riesige Kästen sind, die nur in klimatisierten Räumen funktionieren, und er kennt keine Funktelefone.
Es ist fast immer unmöglich, die gesellschaftlichen Auswirkungen von Technik vorauszusehen
Der Zeitreisende muss sich ganz schön strecken, um die Technik zu verstehen, die die Leute mit den drahtlosen Headsets nutzen. Aber noch viel schwieriger ist es, die gesellschaftlichen Konsequenzen der Technologie zu verstehen – abgesehen von den vielen Menschen, die in der Gegend herumlaufen und sich mit eingebildeten Begleitern unterhalten. Es sei fast immer unmöglich, so Stross, die gesellschaftlichen Auswirkungen von Technik vorauszusehen.
Zum Beispiel Mobiltelefone. Mit ihrer Hilfe können Menschen miteinander sprechen – so viel ist offensichtlich. Weniger offensichtlich ist, dass Telefone zum ersten Mal Menschen miteinander verbinden, nicht Orte. Dadurch können neue Verhaltensweisen entstehen. Menschen, die durch die Stadt gehen, können in Verbindung treten und beschließen, sich in einem Café zu treffen, ohne dass einer von beiden einen Festnetzanschluss hat, dessen Nummer der andere kennt. Das sieht erst einmal trivial aus, aber es zeigt eine enorme Veränderung im Verhalten. Nimmt man SMS und GPS und das mobile Internet dazu, dann werden mehr Verhaltensänderungen möglich.
Derzeit wächst die erste Generation von Kindern auf, die nicht mehr wissen wird, was es heißt, sich verlaufen zu haben. Wo immer sie sich aufhalten, werden sie GPS haben und Karten, die ihnen zeigen, wie sie zu ihrem Ziel kommen. Für uns ist es überhaupt nicht schwer uns eine App vorzustellen, die etwas weiter geht als Google Maps. Sie zeigt einem nicht nur, wie man von Punkt A zu Punkt B kommt, sondern man kann mit ihr auch gleich die Reise dazu buchen, entsprechend den eigenen Budget-Vorgaben. Eigentlich nicht viel mehr als eine Kombination aus Google Maps, Opodo und Micropayment.
Für unseren Zeitreisenden allerdings ist es die reine Magie: Man hat seine kleine leuchtende Box, und wenn man der sagt: Ich will Tante Erna besuchen, dann hält ein Taxi und bringt einen zu Tante Erna, oder zum Bahnhof, oder zum Flughafen – je nachdem, wo Tante Erna wohnt.
So weit der Ausschnitt aus der Rede von Charlie Stross.
Kann das Recht technikneutral sein?
So wenig, wie sich der Zeitreisende hätte vorstellen können, wie das Netz die Welt der Kommunikation und des Reisens verändert, so wenig konnten sich die Väter und Mütter des Urheberrechts vorstellen, für welche Welt ein Urheberrecht im Jahr 2011 taugen muss. Oft kommt an dieser Stelle der Einwand, dass das Recht technologieneutral sein muss und auch sein kann, wenn es nur gelingt, seine Auslegung den aktuellen Begebenheiten anzupassen. Dass ja auch nicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit Gesetze geändert werden und noch viel weniger die Verfassung, die kurz und dunkel sein sollte, damit sie viel Auslegungsspielraum lässt und man so nicht gezwungen ist, sie alle zehn Jahre zu überarbeiten.
Das funktioniert auch an vielen Stellen sehr gut. Aber an manchen muss zur Kenntnis nehmen, dass wir es nicht mit einem technologischen Wandel zu tun haben, sondern mit einem von Technologie getriebenen gesellschaftlichen Wandel ungeheuren Ausmaßes.
Es ist eben so, dass sich kein Urheberrechtler des Jahres 1965 – noch viel weniger des Jahres 1837 – vorstellen konnte, dass die für das Urheberrecht so fundamentale Unterscheidung zwischen privat und öffentlich in der Praxis von Millionen von Menschen nicht mehr existiert, und so ihre Bedeutung wenn nicht verliert, so doch grundlegend wandelt.
Privat vs. öffentlich
Ähnlich wie der Zeitreisende die Auswirkungen der glimmenden Boxen nicht wirklich verstehen kann, könnte der Urheberrechtler des Jahres 1965 nicht wirklich verstehen, dass jemand sein Twitter-Programm öffnet und mit zwei Mausklicks ein Foto oder ein Video so veröffentlicht, dass es Hunderte Millionen Menschen sehen könnten – aber auf den Hinweis, dass es sich dabei womöglich um eine Urheberrechtsverletzung handle, verständnislos antworten würde: „Wieso? Das ist doch mein privater Twitter-Account!“
Nun kann man darauf immer die Antwort geben – und sie wird leider sehr häufig gegeben –, dass Unwissenheit nicht vor Strafe schützt. Die, die diese Antwort geben würden, hören bitte bei der Beschreibung des folgenden Szenarios besonders gut zu:
Stellen Sie sich vor, Sie finden im Internet ein Video, das Sie herunterladen dürfen, zum Beispiel eins der Millionen Videos bei Vimeo. Sie speichern das Video auf Ihrem Rechner, dann laden Sie es bei Facebook mit der Upload-Funktion in Ihren Stream. Wenn das Video nicht unter einer speziellen Lizenz steht, z.B. einer Creative-Commons-Lizenz, dann haben Sie womöglich eine Urheberrechtsverletzung begangen. Denn ohne die explizite Erlaubnis des Rechteinhabers dürfen Sie das Video nicht veröffentlichen.
Haben Sie dieses Video allerdings über die Funktion zum Einbetten in Ihren Facebook-Stream übernommen, indem Sie nur die Webadresse kopieren, haben Sie sehr wahrscheinlich keine Urheberrechtsverletzung begangen. Allerdings nur so lange, wie das Video selber keine Urheberrechte verletzt, denn dann wird eine komplexe Auseinandersetzung darüber nötig, ob Sie als diejenige, die das Video einbettet, dafür eine Mitverantwortung tragen, und ob es einen Unterschied zu der Situation gibt, in der Sie das Video selber hochladen.
Neuer Ausbildungsberuf: Facebook-Einstellungsfachmann
Das alles vor dem Hintergrund, dass erst geklärt werden müsste, ob der Facebook-Stream, in den Sie das Video einfügen, überhaupt eine Öffentlichkeit im urheberrechtlichen Sinne darstellt. Was davon abhängt, ob Sie Ihren Beitrag als öffentlich markiert haben, nur für Freunde von Freunden, nur für Freunde, nur für Freunde ohne Bekannte, nur für enge Freunde oder nur für Familie.
Ich habe kürzlich bei Heise (ausnahmsweise) einen schönen Kommentar gelesen, unter einem Beitrag, in dem beschrieben wurde, welche neuen Funktionen Facebook anbietet und wo man die Einstellungen dafür findet. Er war sehr kurz und lautete: „Ab Oktober neuer dreijähriger Ausbildungsberuf: Facebook-Einstellungsfachmann. IHK-geprüft.“
Der tiefere Sinn hinter lapidaren Kommentaren wie diesem ist der, dass wir an einem Punkt angelangt sind, an dem wir nicht mehr sinnvoll argumentieren können, dass das Urheberrecht ohne grundlegende Veränderungen mit unserer Lebenswelt in Übereinstimmung zu bringen ist.
Wenn ich mir die Vorkommnisse der letzten Wochen um Sebastian Edathy und Siegfried Kauder anschaue, muss ich hinzufügen: Auch vermeintliche Rechtsexperten können das Urheberrecht nicht mit ihrer Lebenswelt in Übereinstimmung bringen; durchaus auch in Fällen, die wesentlich weniger komplex sind als der, den ich beschrieben habe.
Das sage ich nicht, um hier ein paar einfache Lacher einzusammeln. Sondern weil ich in den sechs Jahren, die wir jetzt bei iRights.info versuchen, Fragen zum Urheberrecht zu beantworten, gelernt habe, dass dieses Recht niemals für eine Situation gedacht war, in der Inhalte von ihren Trägermedien abgelöst sind und mit geringstem Aufwand im Internet veröffentlicht werden können.
Wer das Urheberrecht ändern will, will Mord legalisieren. Oder?
Selbstverständlich ist mir klar, welcher Einwand an dieser Stelle kommen muss. Dass das, was Recht ist, Recht bleiben muss, dass das Recht nicht einfach vor dem Verhalten der Menschen kapitulieren darf, sondern Ausdruck dessen ist, was wir nach langer und intensiver Deliberation als volonté générale erachten, statt als volonté de tous. Sonst können wir ja gleich erklären, dass Diebstahl nicht mehr verfolgt wird, oder zu schnelles Fahren, oder gar Mord.
Abgesehen davon, wie erkennbar zu kurz gesprungen, rein polemisch und geschichtsvergessen solche Kommentare sind – sie führen auch in der Debatte nicht weiter, sondern verhärten die Fronten. So, wie der immer wieder gehörte Vorwurf, dass viele derjenigen, die das Urheberrecht zugunsten von Urhebern und Nutzern verändern möchten, es in Wirklichkeit abschaffen wollen.
Denn die, die das Urheberrecht in diese Richtung verändern wollen, kapitulieren nicht, sondern erkennen an, dass die Welt sich geändert hat, und getreu dem Ausspruch, „nur wer sich ändert, bleibt sich treu“, wollen sie dafür sorgen, dass das Recht diesen Veränderungen angepasst wird, damit es sich und seinen Absichten treu bleiben kann.
Von Hühnern und Eigentum
Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen dafür, wie das passieren kann. Es stammt von Lawrence Lessig, aus seinem Buch Free Culture, und es spielt in einer Zeit lange vor der Digitalisierung. Vielen von Ihnen mag der Kragen platzen, wenn Sie den Namen Lessig hören, oder sie sind inzwischen einfach nur gelangweilt. Aber Lessig ist und bleibt ein Meister der Analogie, und diese hier ist besonders treffend. Er beschreibt den Fall der beiden Farmer Tinie und Thomas Lee Causby, der im Jahr 1946 vor dem amerikanischen Supreme Court angelangt war.
Immer mehr Hühner aus dem Besitz der Farmer fielen dem Luftverkehr über den Ställen zum Opfer. Viele Flugzeuge flogen damals offenbar nicht höher als Hühner. Also hatten die Causbys sich auf die damals allgemein anerkannte Interpretation des Eigentumsrechts der Vereinigten Staaten berufen. Sie besagte, dass dem Besitzer nicht nur die „Oberfläche“ seines Landes gehöre, sondern auch alles, was sich darüber gen Himmel erstreckt – bis in die Unendlichkeit.
Die Richter erkannten an, dass diese Auslegung des Rechts eine seit jeher geteilte Doktrin sei. – Und sie verwarfen sie. In seiner Urteilsbegründung schrieb Richter William Orville Douglas: Wendete man dieses Prinzip auf die gegenwärtigen Verhältnisse an, dann müsste daraus folgen, dass jeder Flug über die Vereinigten Staaten zahlreiche Klagen wegen Hausfriedensbruchs riskieren würde. Douglas schloss: „Der gesunde Menschenverstand revoltiert angesichts dieser Idee.“
„Der gesunde Menschenverstand revoltiert angesichts dieser Idee.“
Der gesunde Menschenverstand revoltiert ebenso angesichts der Idee, dass die derzeit im Urheberrecht verankerte Trennung von privat und öffentlich für jede Handlung, egal ob gewerblich oder nichtkommerziell, egal ob mit der Absicht, Gewinne zu erzielen oder nicht, so aufrecht erhalten werden kann, wie sie ist, und die Menschen sich dann auch danach richten werden.
Es herrscht bei vielen, die sich mit dem Urheberrecht beschäftigen immer noch die Vorstellung, dass wir es mit einem Informationsdefizit zu tun haben, manchmal auch „mangelndes Unrechtsbewusstsein“ genannt, alternativ „mangelndes Rechtsbewusstsein“, was ja dasselbe in Grün ist. Die, die diese Auffassung vertreten, argumentieren entweder rein strategisch, oder sie sind in ihren Alltagshandlungen so weit von dem entfernt, was heute für Millionen Menschen Normalität ist, dass man sie mit unserem Zeitreisenden vergleichen müsste.
Recht ist niemals gesellschaftsneutral
Recht kann wahrscheinlich in einem umfassenden Sinn niemals technikneutral sein. Es kann in keinem Fall gesellschaftsneutral sein. Wenn Technologie die Gesellschaft verändert, muss sich das Recht mit ihr ändern. Denn ohne Anerkennung entfaltet Recht in einer demokratischen Gesellschaft auf Dauer keine Wirkung. Im Gegenteil – wenn in einer Gesellschaft versucht wird, Recht ohne Rücksicht auf seine Anerkennung durchzusetzen, zerstört es zuerst sich, dann die Gesellschaft.
Wenn Sie nun konkrete Vorschläge für diese Änderungen hören möchten, dann muss und möchte ich Sie enttäuschen. Wohin die Reise gehen sollte, habe ich Ihnen hoffentlich ausreichend deutlich aufgezeigt. Aber ich bin kein Jurist. Ich kann Ihnen nicht sagen, genau wie diese Änderungen in Paragraphen und Formulierungen gegossen werden können.
Wenn Sie konkrete Vorschläge dazu hören wollen, dann lesen Sie die Ausführungen, die eine Reihe von prominenten europäischen Urheberrechtlern im so genannten Wittem-Code gemacht haben, oder Sie lesen die Leitlinien für ein Urheberrecht für die digitale Welt in Form eines Regelungssystems für kreative informationelle Güter, die das Collaboratory erarbeitet hat. Vielleicht auch das Modellgesetz für Geistiges Eigentum der Deutschen Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht (GRUR), zu dem ich aber noch nichts sagen kann, weil es erst Ende vergangener Woche erschienen ist und ich es bisher nicht einmal in Händen gehalten habe.
Was vergangen, kehrt nicht wieder
Doch egal, für welche konkrete Umsetzung wir uns entscheiden, zuerst einmal müssen wir uns dafür entscheiden, etwas Grundlegendes zu ändern. Das ist sehr schwer, und einer der vielen Gründe dafür, warum das so schwer ist, beschreibt auf wundervolle Art Karl Förster in den ersten drei Zeilen seines Gedichts „Erinnerung und Hoffnung“:
Was vergangen, kehrt nicht wieder;
Aber ging es leuchtend nieder,
Leuchtet’s lange noch zurück!
Natürlich dürfen wir dieses Leuchten genießen, aber wir dürfen uns von diesem Leuchten, das ein Leuchten für viele war, auch für viele Urheber und Nutzer, nicht blenden lassen. Sondern wir sollten das Licht nutzen, um uns den Weg bescheinen zu lassen zu einem anderen, besseren Urheberrecht.
Vielen Dank.
4 Kommentare
1 musikdieb am 12. Oktober, 2011 um 09:01
Ich finde schon, dass (Urheber-) Recht technikneutral sein kann und auch sein sollte.
Die momentanen Unzulänglichkeiten durch die großen technischen Umwälzungen zeigen meiner Meinung nach nur, dass auch bisher schon eine falsche Konzeption des Urheberrechts bestanden hat. Das fiel aber kaum auf, da die Werke eben an die Trägermedien gebunden waren. Als das Urheberrecht entstand, konnte sich außerdem auch noch niemand vorstellen, dass Ton oder Bild mal aufgenommen werden können. Das war ca. um die Jahrhundertwende 1800. Und bei diesem ersten Urheberrecht ging es nur um Text- (und Noten-) Drucke.
Also ist es doch gerade der FEHLER des Urheberrechts, dass es niemals technikneutral war.
Was sagen Sie dazu?