Aaron Swartz: Mehr als Bücher aus der Bibliothek
Aaron Swartz wurde am 19. Juli verhaftet, weil er zu viele Bücher aus einer Bibliothek ausgeliehen hat. Nicht direkt, aber so lautet der in dieser Angelegenheit wohl am häufigsten zitierte Vergleich, den David Segalin, ein Kollege von Demand Progress zog.
Swartz hatte sich von einem Laptop aus im Universitätsnetzwerk des Massachusetts Institute of Technology (MIT) angemeldet und über vier Millionen Artikel aus der wissenschaftlichen Datenbank JSTOR heruntergeladen. Er hätte die Informationen einfacher und ohne ausufernde rechtliche Begleiterscheinungen beziehen können, wenn er keinen Crawler gebastelt hätte, der ein Datenleck dieser Größenordnung ermöglicht und sich einfach über das Datenbank-Abonnement des MIT einzelner Artikel bedient hätte. Aber im vergangenen Herbst, als Swartz mit dem massenhaften Download begann, verschaffte er sich stattdessen Zugang zum Serverraum des MIT, um die Sperrung einer größeren Bandbreite von IP-Adressen seitens JSTOR zu umgehen. Er hatte nicht vor, sich mit einzelnen Artikeln zufrieden zu geben, die er auf gesetzlicher Basis hätte erlangen können.
Sowohl das New York Times Bits Blog als auch netzpolitik.org und der Tagesspiegel sehen die Aktion in der Tradition der Open-Content-Bewegung, der auch Aaron Swartz angehört. Swartz selbst hat sich bislang nicht zu seinem eigenen Motiv geäußert, sodass vorerst ungeklärt bleibt, was er mit den vier Millionen Artikeln vorhatte.
Die Dokumente, die ausgedruckt und gebunden 13.000 Regalmeter füllen würden, lassen verschiedene Verwertungsmöglichkeiten zu. Man kann es Hacktivismus nennen, die Datensätze im Gesamtpaket zu veröffentlichen und damit frei zugänglich zu machen, aber auch eine Datenanalyse über die finanziellen Unterstützungsstrukturen zwischen Unternehmen, Verlagen und universitärer Forschung würde eine klare politische Botschaft beinhalten. Spätestens hier wird deutlich, dass der oben erwähnte Vergleich – sowohl politisch als auch aus urheberrechtlichen Gesichtspunkten – die Lage kaum erfasst. Einstweilen drohen Swartz jedenfalls 35 Jahre Haftstrafe – vermutlich der am meisten Aufsehen erregende Teil der Geschichte für die deutsche Medienöffentlichkeit.
Innerhalb dieses Themenspektrums aus urheber- und lizenzrechtlichen Fragen nach der Verfügbarkeit von Informationen ist bereits erstaunlich, dass der Fall Aaron Swartz hier überhaupt Erwähnung in klassischen Medien findet. Denn in der Regel werden Hacktivisten maximal von netzpolitischen Blogs beziehungsweise innerhalb eines juristischen Diskurses beachtet, während ihre Tätigkeit gesamtgesellschaftlich betrachtet vom Mainstream viel zu weit entfernt scheint. Eine Nerd-Ecke, zu der nur wenige Zugang finden.
Julian Assange ist vor einigen Monaten vielleicht als erstem der Sprung aus einer solchen Nische heraus in die Massenöffentlichkeit gelungen. Auch wenn es auf den ersten Blick wenige Gemeinsamkeiten zwischen Wikileaks und Aaron Swartz zu geben scheint, so ist doch interessant zu beobachten, wie viel Aufmerksamkeit dem einen IT-Aktivisten zuteil wurde, während von Swartz, zumindest in Deutschland, bereits niemand mehr spricht. Die Repressionen gegen Assange wurden als Verletzungen der Pressefreiheit angeprangert, der Inhalt der veröffentlichten Dokumente bot international Stoff für politische Skandale. Auch die vorgeworfene Begehung eines Sexualdelikts machte die Wikileaks-Story anrüchig und damit verwertbar. Swartz’ politische Motivation scheint zunächst abstrakter und auch sein Vorgehen für Laien nur schwer greifbar.
Was aber hält uns davon ab, uns eingehender mit der Informationsfreiheit zu beschäftigen? Selbst ohne juristische oder informationstechnische Fachkenntnisse können Meinungen und Vorstellungen davon entwickelt werden, für wen ein Essay, eine Dissertation, eine Studie zugänglich sein soll. Aus den Kreisen seiner Mitarbeiter heißt es, die hohe Haftstrafe, die Swartz nun droht, sei “ein Exempel der Irrationalität und Grausamkeit des bestehenden Copyright-Regimes”. Ein Statement, dass mindestens eine breitere Diskussion verdient.
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