Nägel mit Köpfen machen – Selbstvermarktung von Musikern
Nine Inch Nails beerdigen die Musikindustrie
Die Band Nine Inch Nails hat einen im vergangenen Jahr ausgelaufenen Plattenvertrag mit dem Universal-Label Interscope Records nicht verlängert. Stattdessen haben die Bandmitglieder um den Sänger Trent Reznor entschieden, ihre Musik künftig selbst zu vermarkten.
Für Anfang Mai ist das offizielle Erscheinen eines neuen Nine-Inch-Nails-Albums mit dem Titel Ghosts I-IV angekündigt. Ob man angesichts von 36 Titeln noch von Album sprechen sollte, darf diskutiert werden. Trent Reznor selbst bevorzugt die Beschreibung als „collection of music“ — Musiksammlung.Über eine eigens dafür eingerichtete Website (http://ghosts.nin.com/) können „die ersten vier Bände von Ghosts“ vorbestellt werden. Zur Auswahl stehen insgesamt fünf Optionen:
- Kostenloser Download der ersten 9 Titel als MP3, ohne DRM, inklusive einem 40-seitigen PDF-Dokument zur Sammlung.
- Alle 36 Titel zum Download in unterschiedlichen Formaten ohne DRM, darunter MP3. Preis: 5 US-Dollar. Das 40-seitige PDF gibt es ebenfalls dazu.
- Doppel-CD für 10 US-Dollar plus alle Titel zum Download.
- Ein Deluxe Edition Package zum Preis von 75 US-Dollar. Im Paket sind dann neben Doppel-CD und PDF zusätzlich enthalten: Eine Daten-DVD mit allen 36 Titeln als Mehrspuraufnahme und eine hochauflösende Blu-ray-Disc mit allen 36 Titeln in 96kHz-/24-Bit-Qualität. (Zum Vergleich: Auf der CD ist Musik lediglich mit 44 kHz und 16 Bit gespeichert.) Selbstverständlich gehört der kostenlose Download aller Titel ebenfalls zum Lieferumfang.
- Ein Ultra-Deluxe Limited Edition Package für sage und schreibe 300 US-Dollar, das unter anderem zusätzlich zur Deluxe Edition noch LP-Versionen der Musik und ein Fotoalbum enthält. Diese Version ist auf 2500 Exemplare limitiert worden.
Das Ultra-Deluxe Limited Edition Package für 300 US-Dollar war innerhalb von zwei Tagen ausverkauft.
Willkommen in der Zukunft der Musikwirtschaft!
Noch einmal im Klartext: Nine Inch Nails haben allein durch den Verkauf des teuersten Musik-Pakets im Angebot binnen zweier Tage 750.000 US-Dollar eingenommen. Und das, obwohl alle 36 Titel als Download-Version auch schon für 5 US-Dollar zu bekommen sind! Normalerweise hätte eine Plattenfirma etwa 750.000 CDs verkaufen müssen, damit die Band solche Einnahmen erzielte.
Das war’s dann. Damit dürften Nine Inch Nails zu den Sargnägeln der großen Plattenfirmen geworden sein.
Welche bekannte Band, welcher bekannte Musiker wird in Zukunft noch einen Vertrag mit einer großen Plattenfirma abschließen, oder verlängern, bei der man im Schnitt lediglich 1 US-Dollar pro verkauftem Album einnehmen kann? Und unbekannte Bands? Die verdienen mit einem Plattenvertrag in der Regel gar nichts, weil die Plattenfirmen ihnen jede Menge Kosten in Rechnung stellen, die erst mit den Einnahmen verrechnet werden. Warum sollten unbekannte Bands sich auf dieses Risiko einlassen?
Um besser zu verstehen, was Nine Inch Nails in der Praxis demonstriert haben, lohnt es sich, etwas in die ökonomische Theorie abzutauchen.
Laut ökonomischer Theorie treffen sich unter marktwirtschaftlichen Verhältnissen Angebot und Nachfrage im Markt. Anbieter (Verkäufer) und Nachfrager (Käufer) einigen sich auf einen Preis, zu dem die Ware dann ihren Besitzer wechselt. Bei sinkenden Preisen kaufen die Käufer mehr von einer Ware, bei steigenden Preisen weniger. Herrscht Wettbewerb unter mehreren Anbietern einer Ware, so sinken die Preise in Richtung Herstellungskosten, weil sich die Händler im Preis unterbieten, um ihre Ware loszuwerden. Idealerweise verfügen weder Anbieter noch Nachfrager über die Möglichkeit, den Preis für die Ware willkürlich zu beeinflussen. Soweit eine kurze Theorie von Angebot und Nachfrage im idealen Markt.
Nine Inch Nails sind eine Band, sie machen Musik. Was sind die Waren, die Nine Inch Nails anbieten? Und wie sieht der Markt dafür aus?
Die einfachste Antwort auf diese Frage bietet die bereits angeführte Liste der Bestelloptionen für das neue Album der Band, Ghosts I-IV. Die Band verpackt ihre Musik in Pakete zu unterschiedlichen Preisen. Aus ökonomischer Sicht hat die Band also entschieden, die Menge aller potentiellen Käufer (Nachfrager) ihrer Musik in mindestens fünf Klassen aufzuteilen. Für jede Klasse von Nachfragern gibt es ein maßgeschneidertes Musik-Plus-x-Paket von Nine Inch Nails. Je nach Kaufkraft und Vorlieben können die Nachfrager entscheiden, gar nichts oder 300 US-Dollar für die Musik und das Drumherum zu bezahlen.
Nine Inch Nails haben durch Bundling den Markt für ihre Musik segmentiert. Der digitale Vertriebsweg Internet hilft ihnen dabei, den Kostenaufwand für den Vertrieb gering zu halten. Das Urheberrecht sorgt dafür, daß die Band Exklusivrechte zur Vermarktung hat. Dadurch wird jeder Wettbewerb für die nicht reinen Download-Versionen praktisch ausgeschaltet, was der Band die Möglichkeit gibt, Preise und Qualitäten nach ihren Vorstellungen zu wählen.
Ich schrieb von „mindestens fünf Klassen“ von Nachfragern. Genauer betrachtet, gibt es noch mehr Klassen. Nehmen wir beispielsweise diejenigen, die lieber 150 US-Dollar für eine Eintrittskarte zu einem Live-Konzert der Band ausgeben als 75 US-Dollar für das Deluxe Edition Package. Oder nehmen wir diejenigen, die zusätzlich zur Doppel-CD für 10 US-Dollar noch ein T-Shirt von der Band kaufen wollen. Die Reihe ließe sich fortsetzen. Diese Käufer bedient die Band auf anderen Wegen, beispielsweise durch Live-Auftritte und den Verkauf von Merchandise-Artikeln bei den Konzerten.
Der entscheidende Punkt hier ist aus ökonomischer Sicht: Die Präferenzen der Nachfrager sind nicht homogen – nicht alle wollen dasselbe kaufen oder können sich Deluxe-Ausgaben leisten. Nine Inch Nails haben das verstanden und machen differenzierte Angebote für eine differenzierte Nachfrage. Der Erfolg gibt ihnen Recht und läßt die großen Plattenfirmen mit ihren vergleichsweise simplen Angeboten alt aussehen.
Die großen Plattenfirmen wollen am liebsten allen Nachfragern genau dasselbe verkaufen: Hits auf CDs. Das bedeutet, möglichst viel von einem spezialisierten Produkt – Musik-CDs von möglichst wenigen Bands/Musikern – zu möglichst hohen Preisen an die Käufer zu bringen. Aus Sicht der Plattenfirmen lassen sich nämlich auf diese Weise unter Ausnutzung von positiven Skaleneffekten, d.h. sinkenden Stückkosten bei Massenproduktion, die Produktionskosten minimieren und die Profite folglich maximieren. Plattenfirmen haben aus diesem Grund verständlicherweise nur wenig Interesse an einer umfangreichen Marktsegmentierung. Die treibt lediglich die Kosten für Verpackungs- und Werbeaufwand in die Höhe.
Große Plattenfirmen sind noch viel weniger flexibel als kleine, da sie noch einen erheblichen bürokratischen Wasserkopf zu finanzieren haben. Marktsegmentierung von Major-Labels (Universal, EMI, Warner und Sony-BMG) sah bisher so aus, daß neue Alben zuerst hochpreisig angeboten werden, ein paar Monate später mittelpreisig und nach einem halben oder vielleicht auch zwei Jahren im Niedrigpreissegment (Stichwort: “Nice Price”). Mit dem Online-Vertrieb – gegen den sich die Majors lange gesperrt hatten – wird ein weiteres Marktsegment erschlossen. Schließlich sind manche Plattenfirmen sogar wieder dazu übergegangen, echte Schallplatten zu produzieren und so eine spezifische Nachfrage zu bedienen. Sony-BMG experimentiert auch mit unterschiedlichen Ausstattungsvarianten und Preisen für neue CDs. Das sind späte Versuche, die durch CD-Brenner ausgelöste und später durch Napster & Co. verstärkte Lawine aufhalten zu wollen. Too little, too late.
Unterm Strich steht heute für viele Bands und Musiker eine entscheidende Frage: Welche Leistung erbringen klassische Plattenfirmen, die Bands bzw. Musiker nicht anderswo günstiger einkaufen können?
Die Antwort ist einfach: keine.
Die Schlußfolgerung daraus lautet: Der Strukturwandel in der Musikwirtschaft hat gerade Fahrt aufgenommen. Nine Inch Nails sind der schlagende Beweis dafür.
Die großen und mittleren Stars, die Hit-Garanten, werden den Plattenfirmen zuerst davonlaufen – sie haben am meisten zu gewinnen und am wenigsten zu verlieren. Damit bricht das profitabelste Segment weg. Das Beispiel der Stars wird Schule machen. Für neue, junge Bands und Musiker wird sich die Frage eines Plattenvertrags bald nicht mehr stellen. Stattdessen werden sie zu Out-of-the-Box-Angeboten zur Musikvermarktung greifen, die wie Pilze aus dem Boden schießen werden. Musikläden werden die entsprechend spezialisierte Webshop-Software zu Preisen von wenigen hundert Euro anbieten. Dienstleister werden im Internet Online-Plattformen erreichten, die speziell für die Vermarktung neuer Musik da sein werden…Ach, das gibt es alles schon? Stimmt!
Meine Prognose: In höchstens fünf Jahren gibt es die großen Plattenfirmen, so wie wir sie seit vielen Jahren kennen, nicht mehr. Dafür wird es ein deutlich vielfältigeres Angebot auf dem Markt für Musik geben. Der industrielle Einheitsbrei, den die Musikindustrie jahrzehntelang zusammengerührt hat, schmeckt nicht mehr. Time to move on.
So banal das klingen mag, man kann es nicht oft genug wiederholen:
„The structure of an industry may change rapidly as costs shift.“ (Dennis W. Carlton und Jeffrey M. Perloff: Modern Industrial Organization, 3rd Ed., Addison-Wesley, 2000, p. 6)
Auch die Musikindustrie kann sich nicht auf Dauer über ökonomische Gesetzmäßigkeiten hinwegsetzen, so sehr ihr auch Gesetzgeber in aller Welt dabei behilflich sein mögen. Selbst bei Politikern wird es irgenwann einen Generationswechsel geben — soviel ist sicher.
6 Kommentare
1 Matthias Bärwolff am 10. März, 2008 um 14:48
Robert,
deine Analyse geht in die richtige Richtung. Sicher, die Großen (Madonna, Radiohead, etc.) laufen den Majors weg, weil sie deren Zwischenhändlerfunktionen auch selbst übernehmen oder woanders spezialisierter einkaufen können.
Zwei Punkte würde ich jedoch gerne hinzuzufügen:
Erstens, Preisdiskriminierung a la Nine Inch Nails können auch die Majors machen. Dafür muss die Band nicht unabhängig sein.
Zweitens, die Musikindustrie ist ein klassischer Winner-takes-all-Markt, long tail hin oder her. Die Großen subventionieren also auch die Zuschussgeschäfte der Plattenlabels, sprich erfolglose Produktionen. Dass jetzt die großen Namen weglaufen, ist nicht verwunderlich. Jedoch, man muss ja erstmal so groß werden. Wenn die Labels jetzt Angst haben müssen, dass ihnen die Bands weglaufen, sobald sie bakannt sind, werden sie ihre Verträge für junge Bands einfach noch “enger” gestalten. Ob das der Industrie auf lange Sicht gut tut? Wer weiß.
2 Eva am 10. März, 2008 um 17:53
Für eine Band wie NIN ist das alles richtig.
Nur in diesem entscheidenden Punkt kann ich Dir nicht zustimmen:
„Für neue, junge Bands und Musiker wird sich die Frage eines Plattenvertrags bald nicht mehr stellen. Stattdessen werden sie zu Out-of-the-Box-Angeboten zur Musikvermarktung greifen, die wie Pilze aus dem Boden schießen werden. Musikläden werden die entsprechend spezialisierte Webshop-Software zu Preisen von wenigen hundert Euro anbieten. Dienstleister werden im Internet Online-Plattformen erreichten, die speziell für die Vermarktung neuer Musik da sein werden…Ach, das gibt es alles schon? Stimmt!“
NIN ist 1989 gegründet worden, vor über 18 Jahren. Um im marktwirtschaftlichen Kontext zu bleiben: Ihre Musik stellte damals eine echte Invention dar, etwas Neues, bisher so nicht da Gewesenes.
Um diese Invention zu einer Innovation zu machen benötigte Trent Reznor ein Budget für Produktionen, um mit diesen auf sich aufmerksam zu machen und damit mehr Konzerte ranzuschaffen, um sich ein größeres Publikum zu erspielen, das dann wieder die neuen Aufnahmen kauft, weshalb die Band dann bekannter wird, weshalb sie dann weitere Konzerte spielen kann uswusf
Um eine Band bis zu einem solchen Bekanntheitsgrad wie NIN zu bringen, investieren Plattenfirma, Management und Booker 3 bis 10 Jahre, teils in Cash, teils in Naturalien wie Arbeitszeit, teils aber auch durch den zielgerichteten Einsatz von bestehenden Netzwerken in Medien und Branche. Sicherlich hat TVT dies 1989, als das Debut Album erschien, auch getan. Und Interscope nach ihnen vermutlich auch. Aus meiner Erfahrung wird ein Video auch nicht mal eben so auf MTV gezeigt und Aufträge Soundtracks zu schreiben fallen nicht vom Himmel.
Will sagen: Der Erfolg einer Band ist bei Weitem nicht nur von der kreativen Arbeit abhängig, sondern auch von der kontinuierlichen und vor Allem langfristigen Arbeit der richtigen Partner. Und damit sich der jahrelange quasi kostenfreie Arbeitseinsatz der Label lohnt, werden nun einmal für eine gewisse Zeit lang Vervielfältigungsrechte übertragen, für den Fall, dass eine Produktion sich refinanziert. So einfach ist das.
Die Aufgabe der Plattenfirma ist insofern dieselbe geblieben, als dass das Thema nie hauptsächlich „Verfügbarkeit im Handel/Medien“ war, sondern „Aufmerksamkeit in Handel/Medien“. Natürlich kann heute jeder seine Songs auf MySpace, Kazzong, last.fm und co einstellen, aber damit ist noch nicht gewährleistet, dass irgendwer die Songs auch hört, geschweige denn, dass die Band daraus irgendwelche Vorteile ziehen kann, ausser jeden Tag 3 bis 5 neue Freunde zu adden. Im Gegenteil, Firmen wie last.fm kassieren 3stellige Millionenbeträge, treten davon aber unhöflicherweise nichts an die Musiker ab, die ihren Erfolg erst möglich gemacht haben.
Von Luft und myspace-Freunden kann aber keiner leben.
Fällt die Investition in junge unbekannte Bands weg (und springt kein alternativer Sponsor wie zum Beispiel der Staat oder VW Soundfoundation oder Jägermeister oder ähnliche ein), wird es keine Bands mehr geben, die auf dem Höhepunkt ihrer Karriere von sich sagen können, dass sie ohne eine Plattenfirma besser fahren. Und mal ehrlich: wem traust Du am ehesten zu, eine gute Band zu signen: VW, einer Plattenfirma oder dem Staat?
Alles eine Frage des Blickwinkels also. Fragt doch mal Bands, die es noch nicht “geschafft” haben. Die suchen Händeringend nach Partnern, die an sie glauben, die in sie investieren, die sie begleiten und ihnen im entscheidenden Moment weiterhelfen. Das werden nur im gleichen Maße weniger, wie die Refinanzierung durch zum Beispiel Platten- oder Merchandise-Verkäufe weniger werden. Das Risiko ist unkalkulierbar geworden und das alles nur, weil die Fans nur sehr zögerlich mitinvestieren: 1€ pro Song ist vielen zu viel mit dem Argument, dass heute eh keine gute Musik mehr veröffentlicht wird. Ziemlich fadenscheinige Argumentation wie ich finde.
Und dann schau Dir mal die Webseiten der unbekannteren Bands an: glaubst Du wirklich, dass diese Bands eine Deluxe Edition für 300$ auf den Markt bringen und die Fans kaufen die? Glaubst Du, dass sie alleine die Produktion und Vermarktung einer solchen Edition in 300er Auflage vorfinanzieren können?
Ich nicht.
Und wer soll das dann in Zukunft tun wenn nicht die Plattenfirmen?
P.S. Plattenfirmen haben sich schon immer über ökonomische Gesetzmäßigkeiten hinweggesetzt, da sie finanzielle Risiken eingehen, die keine Bank der Welt absichern würde, z.B. die Investition in einen unbekannten Künstler.
3 Robert A. Gehring am 10. März, 2008 um 19:53
Eva und Matthias,
in Euren Kommentaren weist Ihr in der Tat auf einen wichtigen Punkt hin: Bands müssen ja erst mal so bekannt und profitabel werden wie NIN…
Daß dabei große, klassische Plattenfirmen in Zukunft eine Rolle spielen können, scheint mir aber wirklich ausgeschlossen.
Gehen wir einmal davon aus, daß bisher Profite von erfolgreichen Bands dazu genutzt wurden, unbekannte Bands zu fördern. Wenn nun immer mehr erfolgreiche Bands sich selbständig machen, wenn die “cash cows” davonlaufen, dann verbleiben den Plattenfirmen am Ende nur noch die finanziellen Risiken. Damit können sie nicht lange wirtschaften, ohne ein völlig neues Modell für die Risikofinanzierung zu finden. Das ist derzeit bei den Majors nicht in Sicht, würde ich meinen. Wenn das “Star-System” der Majors zusammenbricht, dann bricht das Geschäftsmodell der Majors zusammen. Die Majors müssen folglich schrumpfen und diversifizieren — oder untergehen. Der Markt ist da unerbitterlich.
@Matthias: Natürlich können auch Majors Preisdiskriminierung betreiben. Beispiele dafür hatte ich ja genannt. Der Haken dabei ist, dass aus Sicht der Musiklieferanten — der Bands — mehr Profit für sie selbst drin ist, wenn sie die Preisdiskriminierung nicht einer Firma überlassen, die Verlustbringer subventionieren will. Der Eigennutz der erfolgreichen Bands spricht für eine eigenständige Vermarktung.
@Eva: Über “ökonomische Gesetzmäßigkeiten”, über den Markt kann sich in einer Marktwirtschaft nur ein Monopolist hinwegsetzen. Und auch dem gelingt das meist nur für gewisse Zeit.
Besser sieht die Lage für “Musikdienstleister” aus, die mehr als nur das Geschäft mit Musikaufnahmen bieten. Indem sie sich auf die “Rundumvermarktung” konzentrieren und so an allen Einnahmen, die eine Band generiert, beteiligen können, sind sie in der Lage, Risiken zu streuen. Das läuft auf ein kombiniertes Geschäft mit Musikaufnahmen, Live-Konzerten, Merchandising, Lizenzen für Filmmusik, Texte, Noten usw. usf. hinaus.
Manche Bands werden dieses Geschäft wie NIN selbst in die Hand nehmen, andere werden sich dazu, wie gesagt, Dienstleister suchen. Sollten diese Bands schlußendlich erfolgreich sein, werden sie den Weg von NIN gehen.
Nicht jede Band wird auf diese Weise profitabel wirtschaften — aber das ist heute ja auch nicht anders. So gesehen ist das Musikgeschäft gar nichts Besonderes. Nicht jede Geschäftsidee — nicht jede Band — kann erfolgreich sein. Das ist keine moralische Frage sondern eine von Angebot und Nachfrage, Nachfrage und Angebot.
Unterm Strich bleibt jedenfalls ein tiefgreifender Strukturwandel. Wer am Ende zu den Gewinnern gehören wird, kann man nur spekulieren. Die Majors werden jedenfalls zu den Verlierern gehören — das scheint mir unvermeidlich.
4 Eva am 12. März, 2008 um 19:09
–> “@Eva: Über “ökonomische Gesetzmäßigkeiten”, über den Markt kann sich in einer Marktwirtschaft nur ein Monopolist hinwegsetzen. Und auch dem gelingt das meist nur für gewisse Zeit.”
Lieber Robert,
ja, ein Monopolist oder ein Mäzen ;-)), wobei Vertreter beider Extreme in der Musikbranche anzutreffen sind.
Seien wir doch mal ehrlich: würde eine Plattenfirma, egal welche, wirklich nach rein ökonomischen Gesichtspunkten vorgehen, hätte es die meisten Weltstars von heute nicht gegeben. Denn es ist wie ich schon sagte, immer ein unkalkulierbares Risiko, eine noch unbekannte Band unter Vertrag zu nehmen. Deshalb haben auch viele kleine Plattenfirmen eine “Cash Cow”, die den Umsatz reinbringt, der dann in den Nachwuchs investiert wird.
Man handelt eben nicht mit Waschmaschinen, deren Wert sich an Austattung und Funktionalität orientiert (eine Waschmaschine, die nicht ordentlich wäscht, ist keine gute Waschmaschine, das ist sehr einfach), sondern mit Musik, mit Emotionen.
Das Urteil über den Wert eines Musikstücks fällt von Person zu Person sehr unterschiedlich aus. Es kann auch passieren, dass ein und dasselbe Musikstück heute noch nichts Wert ist (weil es niemandem ausser dem Musiker und der Plattenfirma gefällt), 2 Jahre später aber plötzlich durch irgendeinen blöden Zufall (oder kontinuierliche Arbeit) doch noch ein großes Publikum erreicht. Dann ist es plötzlich etwas wert.
Wo ist da bitte die ökonomische Gesetzmäßigkeit?
Natürlich kannst Du als Label Deine Vertriebskanäle und Arbeitsabläufe ebenso optimieren wie andere Unternehmen auch. Aber Du wirst niemals auch nur 80%ig voraussagen können, hinter welchem Song sich ein Hit, wenn auch nur ein kleiner, tatsächlich versteckt. Darüber entscheidet tatsächlich das Publikum.
Und mit mitinvestieren der Fans meinte ich tatsächlich “mit investieren”, indem man die Band durch Konzertbesuche, aber auch Musikkäufe nach vorne bringt
5 Robert A. Gehring am 18. März, 2008 um 09:35
Hallo Eva,
ich habe, glaube ich, noch nie aus dem Munde eines Musikers das Wort “Mäzen” im Zusammenhang mit seiner Plattenfirma gehört. Da fallen normalerweise immer sehr unschöne Worte, die ich hier nicht wiederholen will.
Risiken gibt es ja nicht nur in der Musikbranche. Unternehmer auf allen Gebieten sehen sich einem “unternehmerischen Risiko” ausgesetzt, mit dem sie umgehen müssen. Für den Erfolg des Unternehmens ist dann die richtige Risikomanagement-Strategie gefragt. Die Musikbranche bildet da wirklich keine Ausnahme. Jeder Bauunternehmer, jeder Restauranbetreiber und jeder fliegende Händler weiß ein Lied davon zu singen.
Zu einer solchen Strategie gehört auch die Einsicht, daß, was in der Vergangenheit richtig gewesen sein mag, nicht unbedingt auch in der Zukunft gelten muss. Wenn sich die Risiken und Chancen verändern, muss man sich darauf einstellen. Dem haben sich die großen “Plattenfirmen” aber lange verweigert, weil sie unter den geänderten Bedingungen viel von dem Wettbewerbsvorteil, der aus ihrer schieren Größe resultierte, zu verlieren hatten. Nun füllen andere die Lücke. Aber auch diese haben keine Garantie für ihren Geschäftserfolg. So “will” es der Markt.
Um noch einmal auf NIN zurückzukommen: Laut Chicago Tribune vom 12.3. konnte die Band für ihr neues Album innerhalb von 14 Tagen 781.917 Transaktionen (Downloads/Bestellungen) verbuchen. Daraus resultierten Einnahmen in Höhe von 1,6 Millionen US-Dollar.
Die Band hat inzwischen ein Filmprojekt basierend auf Ghost zusammen mit YouTube angekündigt:
“So here’s the plan: we’ve teamed up with YouTube to host a “film festival” around Ghosts. The concept is for you to take whatever tracks you feel inspired by from Ghosts and create what you feel should accompany them visually.” (13.3., NIN.com)
Das alles sind Aktivitäten, die große Plattenfirmen in der Vergangenheit nicht nur nicht unterstützt sondern teils aktiv verhindert haben. Auch Verwertungsgesellschaften haben da bisher eine für Musiker eher schädliche Position vertreten. Es ist aus ökonomischer Sicht nur konsequent, wenn sie jetzt mehr oder weniger zu den Opfern der “creative destruction” werden, deren Zeugen wir gerade sind.
Der Wert von Musik ist, wie der Wert aller nicht knappen Waren, ein eigenwilliges Ding. Gerade weil er von Emotionen abhängig ist, ist er meist auch willkürlicher als der anderer Waren. Ein besonders interessantes Beispiel ist das der Sängerin und Prostituierten Ashley Alexandra Dupré.
Frau Dupré hat bekanntlich den New Yorker Gouverneur zu Fall gebracht, nachdem seine “geschäftlichen Beziehungen mit ihr öffentlich wurden. Weniger bekannt ist sicher, dass Frau Dupré beim Online-Musik-Portal Amie Street zwei Songs veröffentlicht hat, die man dort käuflich erwerben kann.
Bei Amie Street hängt der Preis eines Musikstückes wie auf einem Markt von der Nachfrage ab: mehr Nachfrage = höherer Peis. Solange Frau Dupré im öffentlichen Bewußtsein eine Unbekannte war, interessierte sich kaum jemand für ihre Musik. In der Folge war die Musik billig, ein einzelner Titel unter 0,20 US-Dollar zu haben. Nachdem die Spitzer-Dupré-Affäre bekannt geworden war, stieg die Nachfrage nach der Musik steil an. Inzwischen kosten die beiden Titel von Dupré jeweils 0,98 US-Dollar (Stand von heute).
Ich bin sicher, der Preis wird auch wieder fallen, wenn die Aufmerksamkeit nachläßt. Es bleibt die Erneuerung der alten Erkenntnis: Musik + Aufmerksamkeit = Nachfrage. Wenn der Preis von der Nachfrage abhängt, dann steigt er mit steigender Nachfrage.
Laut Medienberichten konnte Frau Dupré mittlerweile fast eine Million Downloads bei iTunes verzeichnen. Vermutlich bekommt sie jetzt einen Plattenvertrag. Ja, der Wert von Musik ist ein eigenwilliges Ding…
Was sagen Sie dazu?