Kulturelles Erbe: „Die Digitalisierung ist ein Meilenstein“
Hintergrund
Die internationale Konferenz “Zugang gestalten! Mehr Verantwortung für das kulturelle Erbe” widmet sich Ende Oktober in Berlin der Frage, wie sich die Aufgaben und die Arbeit von Museen und Archiven im digitalen Zeitalter verändern. Veranstalter sind das Jüdische Museum Berlin, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, das Internet & Gesellschaft Collaboratory, iRightsLab Kultur, die Open Knowledge Foundation Deutschland und Wikimedia Deutschland.
Über die Hintergründe sprach iRights.info mit Börries von Notz, Geschäftsführender Direktor der Stiftung Jüdisches Museum, und mit Paul Klimpel, der die Konferenz leitet. Klimpel ist außerdem Leiter Kultur bei iRightsLab und Koordinator der Arbeitsgruppe „Kulturelles Erbe” des Internet & Gesellschaft Collaboratory.
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iRights.info: Der Titel der kommenden Konferenz lautet: „Zugang gestalten – Mehr Verantwortung für das kulturelle Erbe“. Würden Sie sagen, man geht bisher verantwortungslos mit dem kulturellen Erbe um?
Börries von Notz: Nein, so zugespitzt sicher nicht. Der Begriff Verantwortung bezieht sich auf den ersten Teil des Titels „Zugang gestalten“. Kultureinrichtungen stehen heute vor der bedeutenden Aufgabe, sich den Bedürfnissen der Allgemeinheit anzupassen, für die sie da sind. Kulturelles Erbe soll erhalten werden und zugänglich sein, für Forschungszwecke, zum persönlichen Wissensgewinn, auch zur Erbauung des Einzelnen. Es ist keine Überraschung, dass wir mit dem Internet völlig neue Möglichkeiten des Zugangs haben und auch neue Bedürfnisse generieren.
Paul Klimpel: Die Wendung „Mehr Verantwortung” bezieht sich auf den ganzen Diskurs, den wir über das kulturelle Erbe führen müssen. Es geht nicht allein um die Digitalisierung der analogen Bestände der Archive, sondern auch um die Kulturgüter, die heute digital erzeugt werden. Wie können wir sie für die Zukunft bewahren? Was sollen wir aufheben? Die Verantwortung der Gedächtnisinstitutionen ist gewachsen. Sie sollen die physischen Werkträger, die Bücher, Filme und Fotos erhalten – das war immer schon so. Sie sollen sie zusätzlich digitalisieren und die Verantwortung für die entstehenden Digitalisate übernehmen. Und sie sollen unsere heutige digitale Kultur für die Zukunft bewahren.
„Alle Ausstellungen in 3D überall auf der Welt erlebbar“
iRights.info: An wen richtet sich die Konferenz?
Börries von Notz: Wir richten uns an eine ganze Branche. Wir haben in Deutschland allein mehr als 7.000 Museen und unzählige öffentliche und private Archive. Sie bewahren einen historischen Schatz. Diese Branche soll sich damit auseinandersetzen, wie wir heute und morgen den Zugang dazu gestalten, um den Bedürfnissen der Allgemeinheit gerecht zu werden. Wir erwarten nicht gleich konkrete Ergebnisse, sondern wollen den Diskurs in Gang bringen. Neben einer Bestandsaufnahme geht es um Visionen und Modelle.
iRights.info: Welche neuen Möglichkeiten des Zugangs gibt es im Internetzeitalter?
Börries von Notz: Heute sieht unser Archiv-Alltag noch meist so aus: Jemand stellt bei uns eine Anfrage, ob wir Dokumente im Archiv haben, zu einem bestimmten Vorgang oder zu einem Thema. Dann muss ein Mitarbeiter in den Archiven über sogenannte Find-Bücher das entsprechende Archiv-Gut suchen. Der Nutzer macht einen Termin und kommt zu uns in die Lindenstraße in Berlin. Ein Mitarbeiter bringt ihm die entsprechenden Archivboxen, also graue Pappschachteln, die er dann mit Handschuhen im Lesesaal durchsehen kann.
Rein theoretisch wäre diese Prozedur nicht mehr nötig. Wir könnten alle Texte digitalisieren und online stellen. Ein Forscher aus den USA müsste nicht extra nach Berlin reisen. Er könnte unsere Bestände mit einer Volltext-Suche und mit Hilfe von Schlagworten online durchforsten. Wir könnten beispielsweise auch alle unsere Gegenstände scannen und in 3D darstellen. Grundsätzlich wäre es damit auch möglich, alle unsere Ausstellungen in 3D überall auf der Welt erlebbar zu machen. Allerdings hat sich gezeigt, dass viele Nutzer den Besuch vor Ort immer noch vorziehen.
Generell muss man sagen, die Digitalisierung ist ein Meilenstein für die Nutzung von Kulturgütern. Das gesamte Wissen der Archive könnte weltweit zugänglich und durchsuchbar sein. Von diesem Maximal-Zugang sind wir aber noch weit entfernt, aus finanziellen, technischen und rechtlichen Gründen.
„Die Stimmung in den Institutionen ist entscheidend“
iRights.info: Herrscht angesichts der digitalen Möglichkeiten Aufbruchsstimmung in der Branche?
Börries von Notz: Die erste Euphorie, die Mitte bis Ende der 90er einsetzte, als es auch politische Initiativen zur Digitalisierung des Kulturguts gab, ist meines Erachtens vorbei. Zwar ist allen klar, die Digitalisierung wird sich durchsetzen, richtig große Initiativen gibt es aber noch nicht. Das Jüdische Museum hat sich auf 3-D-Projekte konzentriert. Wir stehen kurz davor, 3D-Darstellungen von Kunst- und Alltagsgegenständen umfangreich online zu stellen, stoßen hier aber auch auf rechtliche Hürden. Bei den Text-Archiven sind wir noch nicht so weit.
Paul Klimpel: Ich teile die Beobachtung. Große Euphorie herrscht nicht. Das hat auch damit zu tun, dass damit ein Bruch in gewohnten Arbeitsabläufen von Museen verbunden ist. Das führt oft zu Ängsten und Skepsis. Museen und Archive gehen sehr unterschiedlich mit der Digitalisierung um, manche sehr engagiert, manche sehr defensiv. Die Stimmung in den Institutionen ist entscheidend. Das Jüdische Museum zeigt großes Engagement.
„Archivare sind auf lange Zeit unverzichtbar“
iRights.info: Müssen Archivare fürchten, dass ihre Arbeitsplätze verlorengehen, wenn niemand mehr die grauen Pappschachteln aus dem Schrank holt, weil ihr Inhalt digitalisiert ist?
Börries von Notz: Nein. Wir stehen ganz am Anfang und werden eher mehr Mitarbeiter brauchen, weil die Aufgaben der Digitalisierung dazukommen. Weiterhin müssen Archivare das physische Archivgut bewahren. Die Digitalisierung erfordert auch große Kenntnisse, etwa bei der Veschlagwortung. Niemandem nutzen irgendwelche Briefe, wenn wir nicht wissen, wer sie wann an wen geschrieben hat, worum es darin geht. Die Archivare sind auf lange Zeit unverzichtbar.
Paul Klimpel: Der Archivar hat in analogen Zeiten einen großen Teil seiner Arbeit mit sehr mühseligen, mechanischen Tätigkeiten verbracht. Durch die Digitalisierung kann er sich viel stärker einer inhaltlichen Erschließung widmen, die kein Webservice leisten kann. Das ist letztlich auch eine erfüllendere und wichtigere Arbeit. Eine Verunsicherung auch für die Mitarbeiter sind sicherlich die rechtlichen Hürden der Digitalisierung.
„Große Teile unserer Sammlung können wir niemandem im Netz zeigen“
iRights.info: Wo liegen die größten rechtlichen Hürden für die Digitalisierung?
Paul Klimpel: Kurz gesagt: Das Gesetz verlangt für jedes einzelne Werk, das noch einer urheberrechtlichen Schutzfrist unterliegt, eine Klärung der Rechte und eine Nutzungslizenz. Die wenigen Nutzungen, die Archive ohne Lizenz vornehmen dürfen, beschränken sich auf den Substanzerhalt. Wenn wir von Massendigitalisierung sprechen, ist diese Einzelrechteklärung schlichtweg nicht machbar.
Börries von Notz: Für uns spielen auch die persönlichkeitsrechtlichen Aspekte des Urheberrechts eine große Rolle. Wir müssen beispielsweise überlegen, ob wir Fotos online stellen dürfen, auf denen Personen abgebildet sind. Anders als Presseorgane dürfen wir das nicht unbedingt.
Bei den Lizenzen sind auch die Kosten ein großer Faktor. Die Lizenzgebühren, um Kunstwerke, Fotos und Filme dauerhaft online zugänglich zu machen, sind in der Regel nicht bezahlbar, sie übersteigen unsere finanziellen Möglichkeiten. Leider ist es oft noch nicht einmal möglich, eine kleine Abbildung in geringer Qualität online zu stellen. Damit könnten die Nutzer wenigstens feststellen, welche Werke in unserem Museum sind. In seltenen Fällen wird es Gedächtnisinstitutionen auch grundsätzlich verwehrt, Werke online zu stellen. Das heißt zusammengefasst: Wir haben große Teile unserer Sammlung, die wir zwar vor Ort jedem zeigen können, allerdings niemandem im Netz.
„Wir können es uns finanziell nicht leisten“
iRights.info: Das Urheberrecht steht dem Zugang zum kulturellen Erbe im Weg?
Börries von Notz: Das Urheberrecht stammt aus einer Zeit, in der es das Internet noch nicht gab. Inzwischen akzeptieren wir, dass das Internet zur Lebenswirklichkeit gehört wie öffentliche Straßen oder Flughäfen und kein abgeschlossener Raum ist. Aber der Rechtszustand, der in analogen Zeiten vollkommen berechtigt war, passt nicht mehr zu dieser Infrastruktur des öffentlichen Lebens. Das Urheberrecht musste schon immer an die technischen Entwicklungen angepasst werden, damit es neue Möglichkeiten nicht behindert. Als Gedächtnisorganisation zahlen wir sehr gute Honorare, etwa wenn wir für einen Katalog Bildrechte einholen. Aber wir fühlen uns bei unserer eigentlichen Aufgabe massiv behindert. Wir können es uns finanziell nicht leisten, unsere Sammlung so zugänglich machen, wie das für die Allgemeinheit wünschenswert wäre.
Paul Klimpel: Die Werke in den Sammlungen und Archiven haben ihre kommerzielle Auswertungsphase meist längst hinter sich. Doch die Verwertungsrechte sind in der Regel schwer zu recherchieren. Allein die Rechteklärung bindet unglaublich viele Ressourcen. Die Kosten der Recherche übersteigen oft die Lizenzgebühren, die überhaupt für die Nutzung anfallen. Für den Massenbetrieb eines Archivs ist dieser Aufwand nicht zu leisten.
„Es geht nicht darum, in die heutigen Interessenkonflikte einzugreifen“
iRights.info: Welche Erleichterungen wären denkbar? Die Fair-Use-Klausel in den USA sieht beispielsweise vor, dass Werke zu nicht-gewerblichen Zwecken auch ohne Lizenz genutzt werden dürfen…
Börries von Notz: Mit dem Fair-Use kann ich mich deshalb nicht so recht anfreunden, weil offen bleibt, wann eine kommerzielle Nutzung anfängt. Der Großteil unseres Etats kommt aus öffentlicher Hand, doch wir verkaufen auch Tickets, Kataloge und Merchandise-Produkte, und wir vermieten unsere Räumlichkeiten. Sind wir also eine kommerzielle Institution oder nicht? Das ist schwer zu sagen. Es ist auch nichts Schlimmes daran, Profite zu machen, um sie in unsere Arbeit zu stecken. Fair use hört sich charmant an, muss sich aber stets in Grenzbereichen und Einzelfällen beweisen.
Aber zu den Lösungsansätzen. Wir haben uns bei der Planung der Konferenz sehr intensiv darüber ausgetauscht, was wir uns eigentlich wünschen würden, und sind uns darüber nicht klar. Wir sehen die widerstreitenden Interessen, die jeweils zweifelsohne berechtigt sind. Realistischer Weise wird das Urheberrecht in den kommenden zwei bis drei Jahren nicht grundlegend geändert. Indem wir auf der Konferenz einen Tag über Tabus, Zukunftsvisionen und –modelle sprechen, wollen wir einen brancheninternen Diskurs darüber befördern, wie wir der allgemeinen Interessenlage besser Rechnung tragen könnten. Auch wenn die Urheberrechtsdebatte so erhitzt geführt wird, glaube ich, es gibt durchaus Möglichkeiten zum Konsens.
Paul Klimpel: Das denke ich auch. Ein Beispiel: Bei manchem Film aus den 20er Jahren sind nicht mehr alle Urheber bekannt, die entsprechenden Verträge sind verschollen und die Filmfirma existiert gar nicht mehr. Nach dem geltenden Urheberrecht darf ein Museum den Film nicht zeigen, denn es kann die erforderlichen Rechte nicht einholen. In solchen Fällen sagt niemand: ‚Wie gut, dass wir diesen Film im Keller lassen‘. Es gibt einen breiten Konsens, dass viele der Behinderungen bei der Zugänglichmachung von Kulturgut nicht gewollt sind, und dass sie weder dem Künstler noch der Kultur dienen. Beim kulturellen Erbe finden wir schneller als bei aktuellen Auseinandersetzungen um das Urheberrecht zu einem gemeinsamen Verständnis. Wir haben die Hoffnung, dass für die Bewahrung und Zugänglichmachung der heutigen Kultur irgendwann bessere Regeln gelten, als heute für die Stummfilme der 20er Jahre. Es geht aber nicht darum, in die heutigen Interessenkonflikte einzugreifen.
Börris von Notz: Aus meiner Sicht müssen sich Gedächtnisinstitutionen auch fragen, wie sie Werke zugänglich machen, die sie selbst schaffen. Wenn Museumsmitarbeiter einen Text schreiben, und für die Nutzung durch Dritte 500 Euro Lizenzgebühr verlangt werden, halte ich das für nicht nachvollziehbar, schließlich wurde der Text aus Steuergeldern finanziert. Wer selbst einen möglichst freien Zugang will, darf ihn nichts selbst erschweren.
Paul Klimpel: Viele Museen sind hier natürlich in der Zwickmühle. In ihren Etats werden teilweise Einnahmeerwartungen aus Lizenzgebühren festgelegt, selbst wenn es betriebswirtschaftlich keinen Sinn macht, und die Kosten der Gebührenerhebung die Einnahmen aus den Gebühren übersteigen. Die öffentlichen Geldgeber formulieren diese Erwartungen, deshalb würde ich Museen und Archive in Schutz nehmen.
„Wer bestimmt heute noch einen Kanon?“
iRights.info: Warum steht auch das Thema Crowd auf dem Konferenz-Programm?
Paul Klimpel: Wir fragen, wie die Crowd oder die Masse die Arbeit der Archive und Museen ändert. Immer mehr Personen tragen mit ihren Werken zu dem bei, was wir unter kulturellem Erbe verstehen. Beispielsweise archiviert die Library of Congress in Washington sämtliche Twitter-Meldungen. Es sind aber nicht mehr unbedingt Museen und Archive, die darüber bestimmen, was eigentlich zum kulturellen Erbe gehört. Wer bestimmt heute noch einen Kanon? Wir wollen über diese Veränderungen sprechen und darüber, wie die vorhandene wissenschaftliche Expertise der Museen und Archive weiterhin zur Geltung kommt.
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